Ein allzu schönes Mädchen
worden war, bis es auf nichts anderes
mehr als auf Schläge reagierte.
Während die Frau nach nebenan ging, schauten Marthaler und Petersen sich um. So schäbig das Haus auch von außen aussah, es
war, als wolle Frau Hegemann die Ärmlichkeit ihrer Wohnung durch übermäßige Sauberkeit ausgleichen. Die Decke auf dem Küchentisch
war blütenweiß, die Fenster sahen aus, als seien sie gerade geputzt worden, die Spüle glänzte, nirgendwo stand oder lag etwas
herum. Die beiden Polizisten hörten das Vorrücken des Sekundenzeigers und aus dem Nachbarzimmer die Mutter, die mit leiser
Stimme versuchte, ihren Sohn zu wecken. Dann kam sie zurück. Sie lächelte wieder. Und steckte sich eine neue Zigarette an.
«Ich werd den Herren einen Kaffee kochen.»
|69| Während sie die Maschine mit Wasser füllte und das Pulver in den Filter schüttete, redete sie unentwegt auf ihre Gäste ein.
Sie sang das Loblied ihres Sohnes, der jetzt hoffentlich keine Schwierigkeiten bekomme, sie klagte über das schwere Leben,
das sie seit ihrer Scheidung zu führen gezwungen sei, und sie schimpfte über die Zustände in dieser Stadt, die sie lieber
heute als morgen verlassen würde, um zurückzugehen nach Kärnten, wo, wie sie sagte, noch eine ganz andere Ordnung herrsche.
Dann steckte Werner Hegemann den Kopf zur Tür herein. Er wirkte benommen. Seine Augen waren gerötet. Marthaler bat ihn, hereinzukommen
und sich zu ihnen zu setzen.
«Es wäre nett, wenn Sie nebenan warten würden», sagte er zu der Mutter.
Die Frau schaute ihren Sohn fast zärtlich an und strich ihm übers Haar.
«Keine Angst, mein Bub», sagte sie, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
«Bitte erzählen Sie», sagte Marthaler.
Der junge Mann berichtete, dass er heute Morgen seinen Nachtdienst im «Lindenhof» beendet habe, dann mit dem Rad durch den
Stadtwald gefahren sei und dort die Leiche gefunden habe.
«Im ‹Lindenhof›», fragte Marthaler, «das ist doch das Hotel, wo …»
«Ja», sagte Hegemann, «wo sich die hohen Herrschaften treffen werden.»
Marthaler fand, dass die Formulierung ein wenig verächtlich klang. Und ein wenig altmodisch. «Und was geschah, als Sie den
Toten entdeckt hatten?»
«Mir wurde schlecht.»
«Und dann?»
«Dann war da dieser Mann.»
«Welcher Mann?»
|70| «Dieser Förster.»
«Warum haben Sie versucht wegzulaufen?»
«Weil ich mich erschrocken habe.»
«Erschrocken? Weil Sie dachten, dass es der Mörder des jungen Mannes sein könnte?»
Hegemann nickte.
«Haben Sie schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt?»
Hegemann schien überrascht zu sein von dieser Frage. Er zögerte einen Moment, dann sagte er: «Nein.»
«Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten?», wollte Marthaler wissen.
«Um zwanzig Uhr gestern Abend.»
«Sie sind direkt von zu Hause gekommen?»
«Ja.»
«Wann sind Sie hier losgefahren.»
«Um kurz vor halb acht.»
«Und Sie haben dieselbe Strecke genommen?»
«Ja.»
Marthaler rechnete nach. Vor zwölf, höchstens vor sechzehn Stunden, hatte Schilling gesagt, sei der Tod des Opfers eingetreten.
Das würde passen. «Kannten Sie den Toten?»
Wieder zögerte Hegemann.
«Kannten Sie ihn, oder kannten Sie ihn nicht?»
«Nein, ich glaube nicht. Aber ich habe sein Gesicht nicht so genau gesehen. Es waren überall Blätter.»
Marthaler konnte seine Abneigung gegen Hegemann nicht unterdrücken. Dieses verdruckste Muckertum, dieses verschlagene Muttersöhnchen
war ihm zuwider. Er versuchte es mit einem Überraschungsangriff. «Könnte es nicht sein, dass Sie den Mann doch kannten, dass
Sie ihn gestern Abend getötet haben, dass Sie seine Leiche versteckt, dann Ihren Dienst angetreten haben und heute Morgen
zum Tatort zurückgefahren sind?»
|71| Hegemann sah ihn an. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf.
Daneben, dachte Marthaler. Das war ein ganz und gar blödsinniger Fehlschuss. Wenn Hegemann etwas mit dem Mord zu tun hätte,
würde er nicht hier sitzen. Dann hätte er spätestens, als Elvira ihn aus dem Präsidium hat gehen lassen, die Flucht ergriffen.
Jetzt habe ich ihn eingeschüchtert, und das ist das Dümmste, was man mit einem Zeugen machen kann.
«Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?»
Hegemann verneinte. Er wurde einsilbig. Es hatte keinen Zweck. Er wollte oder er konnte nichts mehr sagen.
«Bitte kommen Sie morgen früh ins Präsidium, damit wir Ihre Aussage protokollieren können», sagte Marthaler.
Dann verabschiedeten sie sich. Sie
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