Ein allzu schönes Mädchen
melden.
Marthaler fühlte sich wie zerschlagen, als sie in Petersens Wagen saßen. Das war eine jener Situationen gewesen, die jeden
Polizisten vorzeitig altern ließen. Man klingelte mitten in der Nacht an einer fremden Tür und wusste nicht, was einen erwartete.
Würde man bedroht werden? Würde man eine Todesnachricht überbringen müssen? Würden einen die Informationen, die man erhielt,
ein Stück weiter bringen, oder würden sie einen zurückwerfen? Und was, wenn man belogen wurde? Vielleicht stimmte es ja gar
nicht, dass Jörg Gessner seit zwei Tagen verschwunden war; vielleicht hatte er hinter einer Tür gestanden und das Gespräch
vom Nebenzimmer aus mit angehört. Vielleicht saß er jetzt mit seinem Bruder am Küchentisch, |134| trank Bier und lachte über die beiden Polizisten, die sich so leicht hatten abwimmeln lassen.
So war es immer. Man schaute in Gesichter, die man lieber nicht gesehen hätte, die man aber nie wieder vergessen würde. Man
erhielt Einblicke in das Privatleben fremder Leute, und es war selten angenehm, was man dort sah. Marthaler kam es vor, als
würde die Verkommenheit immer größere Ausmaße annehmen.
Er wickelte sein Käsesandwich aus und nahm einen Bissen, aber er merkte, wie sein Magen sich wehrte.
«Ich kann nicht mehr», sagte er. «Mich ekelt vor diesen Typen.»
«Komm», sagte Petersen, «es sind nicht alle so.»
«Aber die meisten, mit denen wir es zu tun haben. Die einen haben Geld, die anderen nicht. Das ist der einzige Unterschied.»
«Du bist müde. Ich fahr dich nach Hause.»
«Ja», sagte Marthaler, «lass uns Schluss machen für heute, wir sind beide erschöpft.»
Eine Viertelstunde später stand er vor seinem Haus im Großen Hasenpfad. Die Rücklichter von Petersens Wagen verschwanden in
der Dunkelheit. Marthaler schaute in den Himmel. Der Mond schien.
«Und du da oben», fragte der Kommissar, «kotzt es dich auch manchmal an, was du hier unten so zu sehen bekommst?»
Er erwartete keine Antwort und war froh, dass ihn niemand hören konnte.
Als er bereits in seiner Wohnung war und die Schuhe ausgezogen hatte, fiel ihm ein, dass er wieder vergessen hatte, die Haustür
abzuschließen. Es war ihm egal.
Er warf einen Blick auf die Fensterfront gegenüber, aber dort war alles dunkel. Er ließ den Rolladen herunter und legte wieder
eine CD mit Stücken von Chopin in den Spieler. Diesmal |135| war es die Aufnahme, die Martha Argerich 1965 in den Abbey-Road-Studios eingespielt hatte. Ohne sich auszuziehen, legte er
sich aufs Sofa. Er wollte an etwas Angenehmes denken, aber es fiel ihm nichts ein. Zwei Minuten später war er eingeschlafen.
|136| Vierzehn
Am Morgen des 9. August saß die Braut am Fenster und weinte.
Die Zeitung, die der Bote schon um halb sechs vor die mit einem Blumenherz geschmückte Eingangstür geworfen hatte, lag noch
immer dort. Niemand im Haus interessierte sich für die neuesten Nachrichten. Alle warteten auf Bernd Funke, den Bräutigam.
In der Mitte des Blumenherzens standen mit goldenen Buchstaben die Namen «Bettina + Bernd».
Erst vor wenigen Wochen waren die beiden in ihr neues Haus eingezogen, das ihnen Bernds Vater, ein bekannter Sportarzt und
Orthopäde, als Verlobungsgeschenk am Ortsrand von Bonames gebaut hatte. Noch immer standen Baumaschinen auf dem Grundstück,
und die Haustür konnte man nur über eine Reihe von langen Holzbohlen erreichen, aber innen war ihr neues Heim bereits fertig
eingerichtet.
Bernd Funke hatte sich vier Tage zuvor, am Samstagvormittag gegen 9.30 Uhr, von seiner Verlobten verabschiedet, um gemeinsam mit zwei Freunden seinen Junggesellenabschied zu feiern. Bettina hatte
den drei jungen Männern ein Frühstück bereitet, dann war sie mit ihnen auf die Straße gegangen, hatte Bernd ein letztes Mal
umarmt, um schließlich dem kleinen Sportwagen nachzuwinken, den sie noch am Tag zuvor gekauft hatten. Am Sonntagnachmittag,
spätestens aber am frühen Abend, werde er zurück sein, hatte Bernd gesagt. Dann habe man am Montag Zeit, den Wagen umzumelden
und ihn für die Fahrt zum Standesamt zu schmücken. Der Dienstag bleibe für die Vorbereitungen der Feier.
«Und für uns beide», hatte er hinzugefügt.
|137| Die Idee dieses Junggesellenabschieds hatte Bettina von Anfang an nicht behagt. Sie konnte sich nichts Rechtes unter einem
solchen Ritual vorstellen, und die ausweichenden Antworten der drei Freunde hatten sie auch nicht gerade beruhigt. Aber
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