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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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war kurz vor neun, und der Bräutigam war noch immer nicht aufgetaucht. Niemand wusste
     mehr, was er noch sagen sollte. Alle Beschwichtigungen hatten sich im Laufe der letzten Stunde verbraucht.
    Dann kam ein Mitarbeiter des Standesamtes und rief sie auf.
    «Das Brautpaar Funke, bitte.»
    Bernds Mutter begann zu schluchzen.
    Der Mann vom Standesamt lächelte. Er reichte ihr ein Papiertaschentuch.
    «Sie müssen sich nicht schämen», sagte er. «Hier weinen alle Mütter.»
    «So», sagte Bernds Vater schließlich, «es reicht. Ich rufe die Polizei an.»

|140| Fünfzehn
    Das Telefon klingelte lange, bis Marthaler endlich erwachte. Er hatte tief geschlafen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis er begriff,
     wo er war. Er lag noch immer auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Wohnung, wo er sich wenige Stunden zuvor hingelegt hatte. Das
     kleine Lämpchen am Verstärker seiner Musikanlage leuchtete, aber er konnte sich nicht erinnern, welche Musik er beim Einschlafen
     gehört hatte.
    In seinem Traum war er in einer weißen Stadt gewesen, über der sich ein blauer Himmel wölbte. Er schwitzte. Er trug einen
     dunklen Anzug und einen Hut. In der Hand hielt er einen Spazierstock. Er stand in der Mitte eines Platzes, als über ihm jemand
     auf einen Balkon trat und seinen Namen sagte. Er schaute hoch, aber die Sonne blendete ihn. Schützend hielt er eine Hand über
     die Augen. Es war eine alte Frau, die dort stand. Sie schaute auf den Platz und lächelte. Sie hatte graue Haare und trug ein
     schwarzes Kleid. Sie war sehr schön. «Warum kommst du nicht?» Jetzt erst, an ihrer Stimme, erkannte er seine Mutter. «Aber
     Mama, ich bin doch da», antwortete er. Doch sie schien ihn weder zu hören noch zu sehen. «Warum kommst du nicht?», fragte
     sie erneut. Er winkte und rief ihr jetzt zu, aber sie lächelte nur weiter in seine Richtung, ohne ein Zeichen, dass sie ihn
     erkannte. «Es ist schon gut», sagte sie schließlich leise. «Schon gut.» Dann wandte sie sich mit einer langsamen Bewegung
     ab und verschwand im Innern des Hauses.
    Marthaler liebte seine Mutter. Er hatte sie immer geliebt, auch als Jugendlicher, in jenem Alter, als um ihn herum seine Freunde
     sich darin gefielen, auf ihre Eltern zu schimpfen. Es |141| wäre ihm wie Verrat vorgekommen, etwas Schlechtes über Vater oder Mutter zu sagen. Umso mehr beunruhigte ihn sein Traum, und
     er war froh, dass ihn das Telefon daran hinderte, über die Bedeutung dieser merkwürdigen Szene nachzudenken.
    Marthaler nahm den Hörer, klemmte ihn zwischen Schulter und Ohr und ging zum Fenster, um den Rolladen zu öffnen. Er kniff
     die Augen zusammen. Es war bereits heller Tag.
    «Robert, wo bleibst du? Wir warten schon alle auf dich.»
    Das war Kerstin Henschel. Er entschuldigte sich bei ihr. Er habe verschlafen. Sein Hals war trocken, und er hatte Mühe zu
     sprechen.
    «Ich beeile mich», sagte er. «Lasst euch in der Zwischenzeit von Petersen berichten.»
    «Das ist es ja. Petersen ist auch noch nicht da. Er hat gerade angerufen. Er steckt irgendwo im Stau. Hast du schon mal rausgeschaut?
     In der halben Stadt herrscht Chaos wegen des Präsidentenbesuchs.»
    «Ich komme mit dem Rad», sagte Marthaler. «In zwanzig Minuten bin ich da. Sei so gut und lass mir aus der Kantine ein kleines
     Frühstück kommen.»
    Er stellte sich unter die Dusche und drehte den Wasserhahn abwechselnd auf heiß und auf kalt. Flüchtig trocknete er sich ab
     und ließ das Handtuch auf den Boden fallen. Während er mit der einen Hand sein Hemd zuknöpfte, setzte er mit der anderen einen
     doppelten Espresso auf. Er kippte den Kaffee in einem Zug und verbrannte sich die Zunge. Als er auf seinem Fahrrad saß und
     Richtung Präsidium fuhr, hätte ihn ein Auto, das aus der Schlange der anderen Wagen ausscherte und versuchte, auf dem Radweg
     voranzukommen, fast gerammt. Marthaler traute sich kaum zu atmen. Der Gestank der Abgase war unerträglich.
    Er fluchte. Er hatte sich darauf gefreut, im «Lesecafé» in |142| Ruhe zu frühstücken und mit Tereza zu plaudern. Stattdessen war er von demselben Problem aus seinem Traum gerissen worden,
     mit dem er in der Nacht eingeschlafen war. Das ist nicht gesund, dachte er, diese Art Leben kann nicht gesund sein.
    An einem Kiosk gegenüber dem Präsidium kaufte er die drei Frankfurter Tageszeitungen. Im Treppenhaus wäre er fast mit Petersen
     zusammengestoßen. Sie nickten einander zu und gingen schweigend in den dritten Stock. Alle Augen schauten zur Tür, als

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