Ein allzu schönes Mädchen
lange betreiben konnten. Nach vier Wochen waren alle am Ende ihrer Kräfte. Sie reduzierten die Zahl
der Beamten auf die Hälfte. Als schon niemand mehr damit rechnete, schlug der Mörder erneut zu. Eine junge Polizistin kam
hinzu, wie er auf den Kopf eines alten Berbers eindrosch, der sein Nachtlager am Mainufer aufgeschlagen hatte. Sie zog ihre
Waffe und rief um Hilfe. Der Mörder flüchtete. Über Funk forderte die Polizistin Verstärkung an und benachrichtigte einen
Notarzt. Dann nahm sie die Verfolgung auf. Als sie schon fürchtete, seine Spur verloren zu haben, sah sie, wie der Mann den
grauen Häuserblock in der Burgstraße betrat. Sie wartete vor dem Eingang. Reiling und Marthaler waren als Erste bei ihr. Der
Mann ließ sich ohne Widerstand festnehmen. Er legte sofort ein Geständnis ab. Er behauptete, auf höheren Befehl gehandelt
zu haben. Er habe Stimmen gehört, die ihm den Auftrag erteilt hätten, die menschliche Gemeinschaft von den Stadtstreichern
zu befreien. Bei seiner Festnahme hatte er gegrinst. Natürlich war der Mann krank. Nur hatte sich Marthaler gewundert, dass
niemand, weder vor Gericht noch in den Zeitungen, gefragt hatte, was ihn ausgerechnet auf diese Weise krank gemacht hatte.
Dass er glaubte, Menschen umbringen zu müssen, die niemandem etwas getan hatten, die nachts auf Parkbänken schliefen und alles,
was sie besaßen, in ein paar Plastiktüten bei sich hatten.
Marthaler hatte kein gutes Gefühl. Ausgerechnet hier sollte er jetzt Hendrik Plöger aufsuchen. Es wäre ihm lieber gewesen, |190| wenn er einen Kollegen bei sich gehabt hätte. Er stand auf dem Bürgersteig vor der Schule und schaute auf die Front des Wohnblocks.
Bettinas Vater hatte ihm die Hausnummer gegeben. Es war der zweite Eingang von rechts. In den meisten Wohnungen standen ein
oder zwei Fenster offen. Marthaler hörte Musik. Im ersten Stock sah er den Kopf einer alten Frau, die ihn beobachtete. Links
oben, direkt unter dem Dach, gab es eine Wohnung, in der alle Fenster geschlossen und die Gardinen zugezogen waren.
Marthaler überquerte die Straße. Er schaute auf die Klingelschilder. Die meisten waren mehrfach überschrieben oder überklebt
worden. Da stand es: H. Plöger.
Marthaler drückte auf den Knopf, dann trat er einen Schritt zurück und beobachtete die Fenster.
Es tat sich nichts.
Er klingelte nochmal.
Nichts.
Links neben den Klingeln befanden sich die Briefkästen. Obwohl Plögers Briefkasten mit einem Schild «Bitte keine Werbung einwerfen»
versehen war, war er mit Prospekten verstopft.
Marthaler drückte gegen die Haustür. Sie war unverschlossen. Er betrat das Treppenhaus und lauschte. In einem Schaukasten
an der Wand hingen die Hausordnung und der Reinigungsplan. Im Erdgeschoss wurde eine Tür geöffnet. Zwei Kinder kamen heraus
und stürmten an Marthaler vorbei, ohne ihn zu beachten.
Dann war es wieder still.
Marthaler stieg die Treppen hinauf. Im Vorbeigehen las er die Namensschilder. Plögers Wohnung befand sich im dritten Stock.
Vor der Tür stand ein Paar ausgetretener, verschmutzter Sportschuhe. Marthaler dachte sofort an die Fußspuren, die Schillings
Leute an der Kesselbruchschneise entdeckt hatten. |191| Sie stammten von Sportschuhen. Marthaler zog ein Taschentuch hervor, dann ging er in die Hocke und hob einen der Schuhe hoch.
Auf dem Schild in der Lasche war die Größe 44 angegeben. Die Spuren im Wald waren viel kleiner gewesen. Vorsichtig stellte
er den Schuh wieder ab.
Dann klingelte er erneut. Ohne Ergebnis. Er versuchte es bei der gegenüberliegenden Wohnung, doch auch dort schien niemand
zu Hause zu sein.
Er überlegte, was jetzt zu tun sei. Um in die Wohnung einzudringen, hätte er sich zuvor einen Durchsuchungsbefehl besorgen
müssen. Aber welcher Untersuchungsrichter hätte ihm den gegeben? Gegen Hendrik Plöger lag nichts vor.
Marthaler beschloss, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal wiederzukommen. Er hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als
er stutzte. Ihm war, als habe er aus dem Inneren von Plögers Wohnung ein Geräusch gehört.
Er hielt den Atem an und lauschte.
Dann ließ seine Anspannung nach. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vielleicht war der Laut von der Straße gekommen.
Nein, da war es wieder. Eine Art fernes Schaben oder Kratzen. Marthaler merkte, wie seine Kopfhaut prickelte. Vor Konzentration
begann er mit den Zähnen zu knirschen. Leise ging er drei Schritte zurück. Er atmete
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