Ein allzu schönes Mädchen
stellte er vor der Frau auf den niedrigen Couchtisch.
Sein Glas trank er in einem Zug aus. Seine Hand zitterte. Er überlegte, wie er das Gespräch am besten anfangen sollte.
Die Frau wiegte das Kind jetzt auf ihrem Schoß. Es hatte aufgehört zu weinen und schaute Marthaler an.
«Sind Sie Frau Plöger?», fragte er.
Die Frau schüttelte wieder den Kopf. Sie war Ende zwanzig. Sie trug kurz geschnittenes blondes Haar. Hätte die Angst ihr Gesicht
nicht entstellt, hätte man sie hübsch nennen können.
«Sagen Sie mir Ihren Namen?»
«Ich heiße Sandra Gessner.»
«Was machen Sie in dieser Wohnung?»
«Ich habe die Katze gefüttert.»
«Sind Sie eine Bekannte von Hendrik Plöger?»
Sie schien einen Moment zu überlegen. Dann nickte sie.
«Wissen Sie, wo sich Herr Plöger im Moment aufhält?»
Wieder zögerte sie.
«Nein», sagte sie dann. «Er wollte längst zurück sein. Ich kann nicht mehr jeden Tag hierher kommen.»
|195| «Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»
«Am Donnerstag.»
«Warum haben Sie nicht geöffnet, als ich geklingelt habe? Vor wem haben Sie Angst?»
Sie schaute zu Boden. «Ich konnte ja nicht wissen …»
Die Frau wich ihm aus. Sie wirkte nicht raffiniert, aber sie würde lügen, wenn sie den Eindruck hatte, dass ihr das nützte.
Marthaler musste die Geschwindigkeit seiner Fragen erhöhen. Er musste sie zu schnellen Antworten zwingen, wenn er etwas herausbekommen
wollte. «Wie gut kannten Sie Herrn Plöger?»
«Ich habe die Katze versorgt, wenn er nicht da war.»
«Haben Sie seit Donnerstag etwas von ihm gehört?»
Kurzes Zögern. Kopfschütteln.
Sie log. Jedenfalls sagte sie nicht die ganze Wahrheit. Marthaler war überzeugt, dass die Frau Hendrik Plöger besser kannte,
als sie zugeben wollte. «Sagt Ihnen der Name Bernd Funke etwas?»
In ihren Augen erschien ein kurzes Flackern. Sie versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen. Sie tat, als müsse sie überlegen.
Marthaler setzte nach. «Bernd Funke ist tot. Er wurde ermordet.»
Die Frau schluchzte auf.
«Er ist am Freitag gemeinsam mit Hendrik Plöger weggefahren. Hendrik ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Meinen Sie nicht,
Sie sollten mir sagen, was Sie wissen?»
Sie nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Das Kind auf ihrem Schoß war eingeschlafen. Sie legte es auf die Couch.
«Sie heißen Sandra Gessner. Sind Sie die Frau von Jörg Gessner?», fragte Marthaler.
Sie nickte wieder. Dann erzählte sie.
|196| Zweiundzwanzig
Als Marthaler das Haus in der Burgstraße verließ, war es fast Abend. Sandra Gessner hatte über eine Stunde geredet. Sein Eindruck
hatte sich bestätigt. Diese Frau war weder dumm, noch war sie gerissen. Aber sie hatte sich mit ebenso dummen wie gerissenen,
vor allem aber mit brutalen Menschen eingelassen. Marthaler hatte zugehört und sich Notizen gemacht. Zwischendurch hatte er
den Hausmeister benachrichtigt und ihm versprochen, den Schlüssel von Hendrik Plögers Wohnung später zurückzubringen. Einmal
war er aufgestanden, um Kaffee zu kochen.
Als Sandra Gessner ihren Bericht beendet hatte, war Marthaler erschöpft. Er begriff, dass er eine junge Frau vor sich hatte,
die verzweifelt war. Sie war in ein Milieu geraten, dem sie nicht gewachsen war. Sie hatte sich in einem Gestrüpp unübersichtlicher
Beziehungen heillos verheddert. Sie hatte ein Kind von einem Mann, den sie nicht mehr liebte, vor dem sie aber Angst hatte.
Sie hatte falsche Hoffnungen in einen zweiten Mann gesetzt, der im Begriff gewesen war, eine andere Frau zu heiraten, und
der jetzt tot war. Sie wusste weder ein noch aus. Als Marthaler sie am Ende ihres Gesprächs fragte, was sie jetzt vorhabe,
sagte sie, sie werde mit dem Kleinen zu ihrem Vater ziehen. Wenigstens für ein paar Tage. Marthaler schrieb sich die Adresse
auf. Er bat sie, auf jeden Fall mit ihm in Kontakt zu bleiben. Er fragte, ob sie wisse, wo Jörg Gessner, der Mann, mit dem
sie verheiratet war, sich gerade aufhalte. Sie verneinte.
«Ich weiß es nicht», sagte sie. «Ich habe es eigentlich nie gewusst. Er kam und ging, wie es ihm passte. Jetzt will ich |197| es nicht mehr wissen. Hauptsache, er ist nicht in meiner Nähe.»
Marthaler bestellte ein Taxi für Sandra Gessner und ihren Sohn. Er stellte sich ans Fenster und wartete, bis sie mit ihrem
Kind eingestiegen war. Dann überlegte er, was er mit dem Kätzchen machen sollte. Es würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben,
als es ins Tierheim zu bringen. Er
Weitere Kostenlose Bücher