Ein allzu schönes Mädchen
zusammen. Marthaler merkte,
dass er auf Spekulationen angewiesen war. Ihm fehlten zu viele Informationen. Er fand keine schlüssige Erklärung. Er räusperte
sich. Es würde ihm nichts übrig bleiben, als seine Ratlosigkeit einzugestehen. Er wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen,
als die Tür zum Besprechungszimmer sich öffnete.
Herein kamen Hans-Jürgen Herrmann, der Leiter der Mordkommission, und Arthur Sendler, ein alter Staatsanwalt, den sie alle
seit vielen Jahren kannten.
Während Sendler sich auf einen der freien Stühle setzte, blieb Herrmann stehen. Er war wie immer korrekt gekleidet und trug
eine neue Brille mit einem dünnen goldfarbenen Gestell. Wahrscheinlich hatte er sie sich aus Anlass des Präsidentenbesuches
gekauft. Er ergriff sofort das Wort.
«Es muss etwas geschehen», sagte er. «Ich habe mich vor einer halben Stunde, als uns die Nachricht von dem zweiten Mordopfer
erreichte, von Kerstin Henschel über den Stand der Ermittlungen unterrichten lassen.»
Marthaler merkte, dass Kerstin Henschel ihn ansah. Womöglich befürchtete sie, dass er sich von ihr hintergangen fühlte. Doch
sowenig er die Methoden Herrmanns mochte, in diesem Moment war er froh, dass sein Vorgesetzter ihm die Initiative abnahm.
«Wir werden eine Hundertschaft samt Hundestaffel und berittener Polizei einsetzen und den gesamten Stadtwald durchkämmen.»
Herrmann hielt einen dünnen Kugelschreiber in der Hand, mit dem er zur Unterstützung seiner Worte immer wieder Löcher in die
Luft stach. «Staatsanwalt Sendler hat uns einen Haftbefehl für Jörg Gessner besorgt. Wir werden sofort nach dieser Sitzung
mit zwei Teams ausschwärmen, um den Mann festzunehmen. Wir werden sämtliche seiner |227| Behausungen, Firmen, Sonnenstudios, Videotheken oder was auch immer durchsuchen, bis wir ihn gefunden haben.»
Herrmann schaute an die Tafel. Dort standen noch immer die Namen, die Marthaler gestern hingeschrieben hatte. Herrmann nahm
ein Stück Kreide und unterstrich den Namen Jörg Gessners dreimal.
«Das ist unser Mann», sagte er. «Wir sind es uns, wir sind es dieser Stadt und der Öffentlichkeit schuldig, diesen Menschen
unschädlich zu machen.»
Marthaler fragte sich, wo man eine solche Sprache lernte. Und wo Herrmann seine Selbstsicherheit hernahm. Vielleicht gab es
Seminare, in denen man dieses Verhalten trainieren konnte. Vielleicht musste man so sprechen, sich so benehmen, wenn man mit
der Frankfurter Oberbürgermeisterin Schnittchen essen und zu den Empfängen des Ministerpräsidenten eingeladen werden wollte.
Vielleicht musste man aber auch gar keine Kurse besuchen. Vielleicht musste man nur aus einem Elternhaus kommen, das ehrgeizig
genug war.
«Petersen übernimmt die Aktion im Stadtwald», sagte Herrmann. «Liebmann und Döring werden das erste Einsatzkommando leiten,
Henschel und ich das zweite.»
Schweigen. Die Kollegen sahen sich erstaunt an.
Marthaler schaute auf die Tischplatte. Dann meldete er sich wie ein Konfirmand und sagte: «Herr Pfarrer, ich bin auch da.»
Herrmann war sichtlich irritiert. «Ah ja, Marthaler. Sehr schön. Sie bleiben hier und halten die Stellung.»
Mit diesen Worten wandte sich der Leiter der Mordkommission dem Ausgang zu. Döring schaute in die Runde, schüttelte den Kopf
und tippte sich an die Stirn.
Marthaler wunderte sich über seine eigene Reaktion. Statt den unsinnigen Plänen seines Vorgesetzten zu widersprechen, statt
sich zu ärgern, dass man ihn kaltstellte, war er froh, durch Herrmanns Aktion Zeit gewonnen zu haben.
|228| Auf dem Gang wurde er von Walter Schilling aufgehalten. Der Chef der Spurensicherung steckte ihm ein Foto zu.
«Hier», sagte er, «das ist ein Bild von Hendrik Plöger. Wir haben es in seiner Wohnung sichergestellt. Es dürfte eine ziemlich
aktuelle Aufnahme sein. Jedenfalls meinte das der Hausmeister, dem ich das Foto gezeigt habe.»
Marthaler bedankte sich. Er blieb stehen und schaute sich das Bild des jungen Mannes lange an. Dann brachte er es in die Computerabteilung,
ließ es einscannen und bat die Kollegen, es den internen Fahndungsdaten beizufügen.
Er ging in sein Büro und bat Elvira, in der nächsten Stunde nicht gestört zu werden. Er wollte sich alle Akten noch einmal
anschauen und in Ruhe über den Fall nachdenken. Schon nach zwanzig Minuten hörte er laute Stimmen im Vorzimmer. Kurz darauf
steckte Elvira ihren Kopf durch den Türspalt.
«Robert, entschuldige, da sind zwei Männer,
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