Ein Alptraum für Dollar
solchen Situation die Ruhe bewahren und allein entscheiden. Es muß sich einem Erwachsenen anvertrauen, es muß reden! Constance ist fast noch ein Kind, und noch dazu ein Kind, das niemals gelernt hat, auch nur mit dem kleinsten Problem fertigzuwerden, es hatte ja nie welche!
Auf einmal rennt sie los, ohne zu überlegen, ohne zu wissen wohin. Einfach wegrennen, weg von hier, schnell durch die langen Gänge, die Treppen hinauf bis zu ihrem Zimmer... aber was ist, wenn der Mörder sich darin versteckt hat? Weg, schnell die Treppen hinunter und noch einen Gang entlang! Da steht sie nun vor dem geheiligten Sprechzimmer der College-Leiterin. Ohne anzuklopfen, stürzt sie hinein und wirft sich schluchzend in die Arme der aufgeschreckten Rektorin:
»Constance Morrow! Was immer geschehen sein mag, nehmen Sie sich zusammen!«
»Bitte... helfen Sie mir!«
»Mein liebes Kind, so beruhigen Sie sich doch!«
»Ich... ich kann nicht...«
Bei der Verzweiflung des sonst immer so fröhlichen Mädchens beginnt die strenge Erzieherin zu ahnen, womit sie es hier zu tun hat. Doch nicht etwa wieder mit diesem Mörder, der es anscheinend nur auf ihre Schule abgesehen hat!? Als Constance wortlos ein zerknülltes Stück Papier auf ihren Schreibtisch legt, weiß sie, daß er wieder zugeschlagen hat. Sie überfliegt den Brief und greift sofort zum Telefon! Ohne zu überlegen, welche fatalen Folgen ihre übereilte Reaktion hervorrufen kann. Sie benachrichtigt zwei Personen: die Mutter von Constance und den Polizeichef der Stadt Milton.
Im ersten Augenblick weiß Mrs. Morrow weder ein noch aus. Die Schreckensnachricht schlägt wie eine Bombe in Engelwood ein, in dem riesigen Besitz der Familie in New Jersey. Seit Wochen ist sie mit den Vorbereitungen der Hochzeitsfeierlichkeiten dermaßen überlastet, daß sie schon bei der kleinsten Aufregung durchdreht. Und nun so etwas! Wie sollte sie damit allein fertig werden? Ihr Mann ist auch nie da, wenn man ihn braucht! Seit Tagen ist er irgendwo in Mexico unterwegs, unerreichbar — angeblich in politischer Mission...
Genau wie ihre Tochter vor kaum einer halben Stunde verliert jetzt auch Mrs. Morrow die Nerven und rennt kopflos herum. »Halten Sie den Mund!« Nein, das kann man nicht von ihr verlangen! Nein, sie muß mit jemandem reden. Ein anderer muß entscheiden, was zu tun ist, nicht sie!
Und so wendet sich die aufgelöste, zusammengebrochene Mutter an den einzigen Menschen in ihrer Nähe, dem sie einigermaßen vertraut: an ihren künftigen Schwiegersohn, den berühmtesten Mann der Welt, der sich auf der Flucht vor Journalisten auf dem Besitz der Morrows in Engelwood verschanzt hat: Er heißt Charles Lindbergh.
Charles Lindbergh! Dieser tollkühne junge Mann, dem es zwei Jahre zuvor — am 21. Mai 1927 — als erstem gelungen war, den Atlantik zu überqueren! Eine Weltsensation!
Auch die Entführung des Lindbergh-Babys machte 1932 weltweit Schlagzeilen. Eine tragische Geschichte, die zum Inbegriff der »unsterblichen Morde« geworden ist.
Jeder erinnert sich daran oder hat zumindest etwas davon gehört. Doch kaum jemand kennt die eigentliche Vorgeschichte, die sich drei Jahre vorher abspielte: Die künftige Schwägerin Lindberghs — Constance Morrow — soll entführt und ermordet werden, wenn sie den Mund nicht hält und die 50 000 Dollar nicht brav nach den Anweisungen des Erpressers übergibt.
50 000 Dollar, genau die gleiche Summe, die später als Lösegeld für den Sohn von Charles Lindbergh gefordert wurde.
Mrs. Morrow ist überzeugt, das Richtige zu tun, als sie sich dem Bräutigam ihrer Tochter anvertraut. Ein Mann, der es schaffte, mit einer lächerlichen kleinen Flugkiste allein den Atlantik zu überqueren, der dreht nicht gleich durch, ganz egal was für Gefahren drohen. So ein Mann handelt schnell, ohne dabei die Selbstbeherrschung zu verlieren. Er ist bestimmt der richtige Mann!
Außerdem hat Mrs. Morrow keine andere Wahl, denn so kurz vor der Hochzeit Lindberghs spielt die Presse verrückt! Eine ganze Armada von Reportern aus aller Welt belagert buchstäblich den Familienbesitz in Engelwood. Beharrlich und... vergeblich, denn Charles und Anne verstecken sich. Also versuchen viele hysterisch gewordene Journalisten auch in das Milton-College einzudringen, in der Hoffnung, irgendeine rührende Anekdote von der kleinen Constance zu erfahren — etwa in der Art: »Mein Schwager und meine Schwester — der einsame Adler und die gurrende Taube.«
Wie sollte das arme Mädchen
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