Ein Alptraum für Dollar
und sehen all die Menschen an uns vorübergehen — all die Menschen, die wir nicht kennen, dann fragen wir uns mitunter:
Wer sind sie eigentlich? Sind sie reich, arm? Sind sie glücklich oder vielleicht einsam? Der Menschenstrom fließt an uns vorbei — wir bleiben wie am Rande stehen, erfahren nichts über diese Unbekannten. Und wir vergessen sie auch bald wieder, denn schließlich, was gehen sie uns schon an? Geben wir es ruhig zu: Sie sind uns ziemlich gleichgültig!
An einem milden Herbsttag in Marseille fließt ein solcher Menschenstrom durch die Straßen der südfranzösischen Hafenstadt. Mittendrin im Gedränge ein ganz alter Mann. Niemand achtet auf ihn. Es ist ja nur ein Greis! Und ein Greis steht selten im Mittelpunkt des Interesses. Dieser allerdings sollte schon die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen, denn irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Allein schon, wie er geht: steif, hölzern wie ein Automat — viel zu langsam auch, als ob jeder Schritt zählte. Er geht schnurgeradeaus, ohne anzuhalten, als verfolge er einen peinlich aufgezeichneten Weg, der nirgendwohin führt...
Plötzlich bleibt er stehen, wie auf der Stelle erstarrt. Links und rechts eilen die Menschen an ihm vorbei. Er bewegt sich nicht. Mit leerem Blick schaut er nach vorne, dann bricht er zusammen.
Die Menschen auf der Straße reagieren merkwürdig.
Keiner traut sich, ihn auch nur anzufassen. Alle stehen im Kreise um den zusammengebrochenen alten Mann herum und betrachten ihn erstaunt, fast schockiert, als wäre es ungehörig, so ohne vorherige Ankündigung einfach zusammenzubrechen.
Endlich unternimmt eine Frau etwas: Sie geht zögernd zu dem Alten, kniet sich hin, legt sogar ihre Hand auf sein Gesicht und sagt verstört:
»Ich glaube, der lebt noch!«
Jetzt drängen sich alle um die kleine Gruppe:
»Was ist hier los?«
»Wie ist das denn passiert!«
»Treten Sie doch zurück! Der braucht Luft!«
»Ach... ein alter Säufer wahrscheinlich, das hat man davon...«
»Wo bleibt denn die Polizei, verdammt noch mal! Der muß hier weg!«
Die Polizei ist schon da, mit heulender Sirene. Eine Erleichterung für die nervös hilflos gestikulierenden Menschen! Denn jetzt wird alles von diesen gleichmütigen Männern in Uniform bestens geregelt. Und niemand braucht sich mehr verantwortlich zu fühlen. Die Geschichte wird anderswo weitergehen, irgendwo im Krankenhaus. Man ist beruhigt.
In dem Krankenwagen kümmern sich schon die Sanitäter um den immer noch bewußtlosen Alten und suchen nach seinen Papieren. Nichts. Kein Ausweis, keine Adresse, nicht der geringste Hinweis darauf, wer der Mann ist.
Vielleicht doch! Da steckt ein zerknitterter Brief in seiner Tasche. Ein Brief, der bestimmt hundertmal gelesen und wiedergelesen worden ist. Wochen alt.
Der Alte liegt jetzt im Krankenhaus — die Diagnose ist gestellt: Da ist nichts mehr zu machen, der Mann stirbt.
Jeden Augenblick kann das verbrauchte Herz aufhören zu schlagen wie ein abgenutztes Uhrwerk.
Man müßte schnellstens irgend jemanden benachrichtigen!
Der zerknitterte Brief liegt auf dem Tisch neben dem Bett, aber da steht so wenig drin! Der Pfleger liest ihn noch einmal aufmerksam: Er wurde von einem Soldaten geschrieben — am anderen Ende von Europa stationiert! Aber immerhin steht hier seine Kennummer »56023« und auch der Name: Galin J.
Die wenigen Zeilen sind kaum aufschlußreich, unbedeutendes Zeug über das Leben in der Kaserne und am Schluß: »...warte auf mich und sei nicht traurig. Es dauert hier nicht mehr lange...«
Ein Name, eine Kennummer, eine Kaserne? Das müßte doch eigentlich genügen, um den Sohn zu finden. Vielleicht kann er sofort kommen! Wozu gibt es denn Telefone und Flugzeuge auf der Welt?!
Der Pfleger beugt sich über den Alten:
»Monsieur... Ist das ein Brief von Ihrem Sohn?«
Der alte Mann bewegt mit Mühe die Lippen:
»... mein Sohn...«
Und schon rennt der Pfleger in das Verwaltungsbüro des Krankenhauses und hängt sich ans Telefon. In Marseille ist es jetzt 17 Uhr. Nach knapp einer Stunde — und das ist wirklich eine Leistung! — spricht er endlich mit der zuständigen Stelle im Verteidigungsministerium in Paris, wo auch jemand sofort begreift, worum es sich handelt — auch eine Leistung, so kurz vor Feierabend! Die Kennnummer wird notiert, der Name Galin J. und die Kaserne.
Es dauert allerdings noch eine ganze Weile bis die Nachricht in der fernen Garnison ankommt. Dort unterzeichnet der Oberst gleich einen
Weitere Kostenlose Bücher