Ein Alptraum für Dollar
niemals stattgefunden hat?
30. Juni im Bordbuch Nr. 3:
»Meine Seele ist zur Ruhe gekommen. Ich übergebe euch meine Tagebücher. Es ist nur eine Schönheit darin zu finden — die Schönheit der Wahrheit. Jeder kann nur das tun, wozu er fähig ist. Alles ist zu Ende. Aus. Das Spiel ist aus. Ich gebe auf, es ist 11 Uhr 50.«
Zwei Wochen später treibt der Trimaran »Electron« herrenlos fünfhundert Meilen westlich von den Kanarischen Inseln. Verlassen.
Die Bordbücher liegen auf der Koje. Das erste, das um die Welt gesegelt ist.
Das zweite, das sich im Atlantik im Kreis herumgedreht hat.
Und das dritte, das Kurs auf Wahnsinn und Verzweiflung genommen hatte.
Dort ist Richard angekommen... ein Mann allein.
Der Zorn Gottes und der rettende Engel
Monsieur Resnay, Sie sind ein... Dinosaurier!« Monsieur Resnay hat nicht die leiseste Ahnung, was dieses Wort bedeutet.
Er ist sechzig Jahre alt, kernig und macht eigentlich nicht den Eindruck, von gestern zu sein. Allerdings — der Eindruck täuscht.
Er hat sein ganzes Leben mit seinen Äpfeln, Birnen und Pflaumen verbracht, mit all diesen Dingen, die heute nur noch im Weg stehen: »Überproduktion« — sagt Brüssel. Auch mit diesem Begriff kann der alte Bauer nichts anfangen. Warum müssen jetzt Berge von schönstem Obst verfaulen, und dabei verhungern so viele Menschen auf der Welt?! Das ist ihm zu hoch. Und ohne sich im geringsten um das zu kümmern, was man heute in der Landwirtschaft unter »Rentabilität« versteht, hat er sich im Laufe der Zeit immer mehr verschuldet, um sein Stück Land im tiefsten alten Frankreich für seinen einzigen Sohn irgendwie zu retten: für diesen Verräter, der es nicht einmal haben will, ja, der sogar desertiert ist! Anstatt die gute, fruchtbare Erde seiner Ahnen wie ein Geschenk des Himmels anzunehmen, hat er sich aus dem Staub gemacht und lebt heute sehr weit weg. In Australien. Dort, wo das Wasser in den Waschbecken andersrum abläuft. Das weiß der Bauer! Nun, können Sie verstehen, Herr Notar, warum Monsieur Resnay vor Wut kocht? Nein.
»Monsieur Resnay, wir haben keine andere Wahl! Wir müssen verkaufen! Ihre Gläubiger verlangen die Rückzahlung der Darlehen. Ihr Haus, ihr Land, alles ist mit Hypotheken belastet! Und Sie können nicht zahlen. Also — verkaufen!
»Sie haben vorhin Dinosaurier zu mir gesagt... was heißt das?«
»Nichts, es ist nur so eine Redensart. Ich wollte damit nur sagen, ja, daß Sie Ihr Land halt so bewirtschaften, als lebten wir noch im Mittelalter! Heute gibt es vorgeschriebene Produktionsnormen, Monsieur Resnay! Die Früchte müssen zum Beispiel klassifiziert werden, bestimmte Düngemittel werden empfohlen! Und auch Transport und Verkauf sind gesetzlich geregelt! Wie wollen Sie denn rentabel erzeugen, wenn Sie stur dabei bleiben, Ihre Obstfelder nicht zu spritzen, Ihre Früchte von den zuständigen Stellen der Gemeinde nicht prüfen zu lassen? Und wenn Sie ohne Genehmigung das Obst selber verkaufen — auf allen kleinen Märkten der Gegend-, so verstoßen Sie eben gegen die neuen Agrargesetze! Außerdem haben Sie viel zu niedrige Preise. Auch das ist verboten! Ich sage es Ihnen schon seit Jahren, aber Sie wollen nicht auf mich hören! Und jetzt ist es zu spät. Wir müssen verkaufen!«
»Herr Notar, Sie sind ein Dieb! Oder glauben Sie vielleicht, ich weiß nicht, an wen Sie mein Land verkaufen wollen?! Doch nur an diesen Gauner, der mit seinen Teufelsmaschinen Trockenfutter herstellen will! Ich weiß Bescheid! Ich bin nicht so blöd, wie Sie meinen! Ich wette, daß Sie hier, in Ihrer Schublade, auch schon die Baupläne haben für eine rentable Futterfabrik, die bald auf meinem Land stehen soll!«
»Tja, Monsieur Resnay, man kann eben den Fortschritt nicht aufhalten!«
»Fortschritt nennen Sie das? Und was soll aus meinen Obstbäumen werden? Aus den Feldern voll duftender Blumen im Frühling? Aus den Bienen? Aus dem Honig? Alles plattquetschen mit dicken Walzen, ja? Ich habe Birnbäume, die sind über hundert Jahre alt! Mein Urgroßvater hat sie selber gepfropft! Herr Notar, nehmen Sie meine ganze Ernte und auch die vom nächsten Jahr, aber verkaufen Sie nicht! Die Elise und ich, wir würden es nicht überleben! Es reicht schon, daß uns der Sohn verraten hat, dieser verdammte Bastard, den Gottes Zorn verschont hat!«
Der Notar schaut ziemlich verdutzt. »Aber Sie müssen! Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Nun seien Sie doch vernünftig!«
»Ich? Ich soll vernünftig sein?
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