Ein Alptraum für Dollar
bringen. Für seine Eltern und seine drei kleineren Geschwister.
Der Junge ist völlig erschöpft, aber er kann nicht einschlafen. »... wie ein Stück Vieh leben...« Wenn man sich’s so richtig überlegt, weiß Gott, es stimmt! 5 Uhr morgens: Aufstehen. 5 Uhr 30: zur Pferdebahn laufen. 6 Uhr: Erstes Schwein zerlegen. 9 Uhr: zehn Minuten Pause, Brot hinunterschlingen. 9Uhr 10 bis 12 Uhr: Schweine zerlegen. 12 Uhr bis 12 Uhr 30: Mittagspause — eine halbe Stunde, keine Minute länger. Schnell essen und zwanzig Minuten vor dem Abort Schlange stehen. Keine Zeit, sich die Beine im Hof zu vertreten. 12 Uhr 30 bis 6 Uhr abends: Am Fließband stehen und Schweine zerlegen. Ohne Verschnaufpause.
Gegen 7 Uhr kommt Heinrich nach Hause, zerschlagen vor Müdigkeit. Er hat weder die Kraft noch die Lust, mit seinen Eltern zu reden. Schweigend schlürft er seine dicke Mehlsuppe hinunter. Als Hauptgericht gibt es ein Stück Brot mit Schmalz und als Nachtisch ein Stück Brot mit Melasse. Um 8 Uhr fällt er ins Bett und schläft sofort ein wie ein todmüdes Pferd. Tagaus, tagein.
Nur heute abend nicht. Heute kann er nicht schlafen. »... wie ein Stück Vieh...«
Komisch, wie der junge Deutsche auf einmal die Welt mit anderen Augen sieht. Jedes Wort verliert seinen eigentlichen Sinn, verliert jeglichen Sinn, wenn man es genau bedenkt.
Wenn Heinrich zum Beispiel sagt: »Ich fahre mit der Pferdebahn«, dann heißt es in Wirklichkeit: »Ich werde in einem dreckigen Karren durchgerüttelt, mit einem Haufen anderer stinkender und schlaftrunkener Arbeiter transportiert, die vor Müdigkeit umfallen würden, wenn sie nicht aneinandergepreßt wären wie Salzheringe in der Tonne.«
Was bedeutet »Haus«? Eine wacklige Holzhütte aus morschen Brettern zusammengeflickt, die Wind und Regen nicht standhalten. Das »Bett«? Ein Bündel Stroh in einer Ecke. Und die »Decken« — Kartoffelsäcke.
Wenn Heinrich sagt: »Bremer«-Viertel, müßte er hinzufügen: »Sumpfgebiet mit Wegen und Behausungen auf Pfahlwerk über ekelhafte Wassergräben gebaut, die bei starkem Regen überlaufen und das ganze Viertel mit einer schlammigen Brühe überschwemmen — ein Paradies für Ratten, dicke, blaue Fliegen und Ungeziefer aller Art.« Ja, sogar das Wort »Arbeit« ist falsch. Oder kann man das, was er zwölf Stunden lang am Tag machen muß, vielleicht menschenwürdige Arbeit nennen? Diesen atemlosen Marathonlauf an dem immer rotierenden Fließband, das einem nicht einmal erlaubt, sich zwischendurch die Nase zu schneuzen?!
Erst vorgestern gab es wieder einen »bedauerlichen Vorfall«. Anton, auch ein junger Deutscher, der neben Heinrich die frisch abgeschlachteten Schweine zerlegt, wurde plötzlich ohnmächtig. Als er zu Boden fiel, stürzte der Vorarbeiter auf ihn los. Aber nicht etwa, um ihm zu Hilfe zu kommen, sondern um den liegenden Körper mit einem Tritt zur Seite zu schieben und den leeren Platz am Fließband sofort selber einzunehmen. Zehn Minuten lang mußte Anton im Dreck liegen bleiben, bis die Männer der Sicherheitskolonne die Hilferufe der Kollegen endlich hörten und den Bewußtlosen wegschafften. »... wie ein Stück Vieh leben...!«
Nach diesem unverzeihlichen Schwächeanfall wird Anton entlassen. Wer krank wird, verliert seine Arbeitsstelle. Das ist klar!
»Arbeitsstelle.« Schon wieder so ein Wort, worüber Heinrich noch nicht richtig nachgedacht hatte! Ja, ein paar hundert Männer sind jeden Tag »zur Stelle« in diesem Schlachthaus — zwölf Stunden lang. Und es gibt nicht einmal ein einziges Waschbecken, wo man sich wenigstens vor dem Essen Blut und Eingeweide von den Händen spülen kann! Die hygienischen Zustände sind so katastrophal, daß die kleinste Verletzung in neun von zehn Fällen den sicheren Tod bedeutet. In den vergangenen sechs Monaten sind dreißig Arbeiter an den Folgen lächerlicher Schnittwunden gestorben. Und wofür die ganze Misere? Für knapp drei Dollar am Tag. Soviel kostet ein bescheidenes Abendessen in der Stadt.
Und die »schwarzen Listen«, die schrecklichen, schwarzen Listen mit den Namen aller Arbeiter, die die Unverfrorenheit haben, Ansprüche zu erheben: die Schlechtgesinnten, die Gewerkschaftler, die Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Alle, die sich eben wie Heinrichs Vater um Dinge kümmern, die sie nichts angehen. Alle, die bessere Arbeits- und Lebensbedingungen fordern, während so viele nicht einmal den geringsten Hoffnungsschimmer haben, jemals eine Arbeit zu bekommen. Hunderte von
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