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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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dachte, dass all dies die ganze Zeit still und heimlich sein winzig kleines Abenteuer umarmt hatte, da ergriff ihn das Gefühl einer allumfassenden Macht, so wie es ihm als Kind oft ergangen war.«Das hier war die ganze Zeit da», dachte er.
    Er zog die Schuhe an und rannte hinunter zum Meer. Die Luft war noch immer mild, und er stand am Rand der kleinen Wellen und blickte nach Osten auf den sich rötenden Lichtstreifen jenseits des Wassers. Wie er so dastand, schienen mit einem Mal alle Formen von Schönheit, die je in seiner Phantasie erstanden waren, aus dem Meer aufzusteigen und sich um ihn zu scharen. Sie trugen ihn empor in den blass getüpfelten Morgenhimmel, und wie in einer mystischen Vision erfasste er die Bedeutung von Schönheit, das Geheimnis der Dichtung, das Gefühl für die Kräfte, die in ihm um Ausdruck rangen. Wie hatte er sich jemals fürchten können – vor Laura Lou, vor dem Schicksal, vor sich selbst? Sie war die Schale, aus der er diese göttliche Sicherheit geschöpft hatte, diesen Augenblick der Vereinigung mit dem Universum. Was auch geschah, wie mühsam und holprig der vor ihnen liegende Weg sein mochte, er würde Laura Lou im Herzen tragen, wie die kleine Schale, die ihm dieses überwältigende Einssein geschenkt hatte …

22
    Noch zwei milde Tage blieben sie wie verzückte Kinder am Meer; am dritten wurde es kühler. Laura Lou begann zu husten, und erschrocken packte Vance ihre Besitztümer ein und brachte seine junge Frau zurück in die Zivilisation. Er hatte beschlossen, ihr vierundzwanzig Stunden in einem New Yorker Hotel zu schenken, mit einem schönen Abend im Kino oder (sollten sich ihre Träume so hoch versteigen) in einer Show, und wie es danach weitergehen sollte, wusste er genauso wenig wie sie, auch wenn er es ihr noch nicht gestanden hatte.
    Die Sorge ums Geld drückte ihn nicht. In seinem Kopf wimmelte es von Visionen, und in seinem Zustand überdrehten Glücks schien jeder Traum leicht zu fassen und darzustellen. Am liebsten hätte er sich ans Meer gesetzt und ein unendlich langes Gedicht geschrieben, aber Laura Lou, die Inspirationsquelle dieser Sehnsucht, war auch das unüberwindliche Hindernis für deren Erfüllung. Also würde er stattdessen Erzählungen schreiben; nachdem«Nicht abgeholt»angenommen worden war, konnte er bestimmt beliebig viele verkaufen. Er hatte versprochen, nach der Hochzeit möglichst bald bei Tarrant vorbeizuschauen und mit ihm über eine regelmäßige Mitarbeit bei der«Stunde»zu sprechen. Dennoch wäre es ein kostspieliges, wenn nicht unmögliches Unterfangen, mit Laura Lou in New York zu leben. Sie war ein Luxusartikel wie ein exotischer Vogel oder eine tropische Blume; dass sie ihm helfen könnte, Geld zu verdienen oder den Haushalt zu führen, kam ihm nicht in den Sinn. Er hatte sie einfach unerträglich dringend haben wollen, und nun hatte er sie. Und so köstlich dieser Besitz war – er sah sich plötzlich auch vor dessen Kosten gestellt.
    Er fand ein Hotel, das nicht unverschämt teuer und dennoch prächtig genug war, um Laura Lou zu blenden; sie aßen in einem Restaurant voller Kunstmarmor, wo sich alle Männerblicke auf sie richteten, und sie strahlte vor unschuldiger Freude über die Wärme und das Licht und über die Wonne, in der schummrigen Beleuchtung einer rosa Kerze als seine Frau mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Danach entschied sie sich, entzückend um Anspruch bemüht, nicht für ein Kino, sondern fürs Theater. Das war zwar viel teurer, doch hol’s der Teufel, dann schrieb er eben noch eine Erzählung. Es war wunderbar, wie sich die ungeschriebenen Erzählungen auf den Regalbrettern seiner geistigen Bibliothek ansammelten. Er suchte das Stück aus,«Romeo und Julia», mit einer jungen, tragisch schönen Schauspielerin als Julia, und bald darauf saßen sie unter dem eleganten Publikum, Vance mit Auge und Herz ganz auf der Bühne, Laura Lou sichtlich verwirrt von den merkwürdigen Worten und endlosen Reden der Schauspieler. Wenn das Geschehen zu unverständlich wurde, warf sie heimlich verstohlene Blicke auf die eleganten Kleider und fein ondulierten Köpfe ringsum. Zwischen den Akten saß sie schweigend da, überglücklich vor Aufregung, die Hand in die ihres Mannes geschmiegt, als wäre diese Berührung der einzige Schlüssel zum Leben. Wie schon im Restaurant zog das Köpfchen mit den silbrig blonden Wellen und der zarten Silhouette von Stirn und Wange viele Blicke auf sich, doch Vance merkte, dass sie sich dessen

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