Ein altes Haus am Hudson River
welche Grenzen ihrem Verstand gesetzt waren und dass die Dinge, die für ihn zählten, für sie niemals zählen würden. Sie lächelte darüber hinweg wie über etwas Kurioses, so wie eine kluge kleine Frau ihrem verschrobenen Ehemann seinen Willen lässt, und ihr Lächeln ließ ihn fast glauben, eine Seele könne allein von Koseworten leben. Fast, doch nicht ganz. Von Kindheit an hatte es in ihm immer einen letzten, winzigen Kern aus Egoismus gegeben (er fand kein anderes Wort dafür), eine verborgene Höhle, in der er seine geheimsten Schätze hortete wie ein Kind versteinerte Seesterne und glanzlose Muscheln, auf denen es einst das Meer hatte glitzern sehen, auch wenn das jetzt niemand mehr glauben wollte. Nicht einmal Laura Lous Beschränktheit, nicht einmal Laura Lous Umarmungen konnten diesen Schatz entwerten.
So war er etwa drei Wochen hin- und hergefahren, als er eines Abends, zurückgekehrt aus New York, seine Frau unten im Haus nicht antraf und zu ihr nach oben lief. Sie lag schlafend auf dem Bett in jener Haltung vertrauensvoller Gelassenheit, die ihn am ersten Morgen nach der Hochzeit so gerührt hatte. Neben dem Bett lag ein zerknülltes Papier am Boden. Laura Lou schlief so fest, dass er das Papier aufhob und unter der Lampe glättete, ohne sie zu wecken. Der Brief trug den Absender eines Vertreterhotels in Seattle und begann so:
« Nur noch ein paar Tage, meine süße Kleine, dann bin ich wieder daheim, und wie ich Bunty Hayes kenne, machen wir uns über Weihnachten eine schöne Zeit. Sag, Herzchen, wie lang hast du schulfrei?»
Vance las nicht weiter. Er stand reglos da und blickte auf seine Frau. Sie hatte es Bunty Hayes nicht gesagt, auch Mrs Tracy hatte ihm nichts gesagt. Vance begriff, dass beide Frauen Angst hatten, und in ihm stritten Mitleid und Zorn. Der Zorn richtete sich überwiegend gegen Mrs Tracy, und das Mitleid – nun ja, Mitleid hegte er für Bunty Hayes. Die Frauen hatten ihn nicht anständig behandelt … Vance ließ den Brief fallen, wo er ihn gefunden hatte.
Am nächsten Tag, seinem letzten in der Redaktion vor Weihnachten, reichte er seinen Artikel über Eric Rauchs«Voodoo»ein. Er war nicht zufrieden damit, fand ihn nicht gut. Er war ihm zuwider, weil er ein Teil dessen war, was«Die Stunde»zum Ausgleich für sein Gehalt von ihm erwartete.
Auch Tarrant schien sich nichts aus dem Artikel zu machen; allerdings würde sich das etwas später, sobald er gute Argumente zur Hand hätte, wahrscheinlich ändern. Vance hatte bereits begriffen, dass die Meinung seines Chefs immer mit vierundzwanzigstündiger Verspätung eintraf. Anfangs hatte er geglaubt, sie bildete sich so langsam wie seine eigene, aber allmählich vermutete er eine andere Ursache. Jemand, der Tarrant nicht ständig zur Verfügung stand, vielleicht seine Frau, erledigte das Denken für ihn. Vance hatte nicht viel Zeit gehabt, an Mrs Tarrant zu denken, seit ihrer Begegnung an jenem Nachmittag, als sie sich erboten hatte, mit ihm Dante zu lesen. Seither hatte er nichts mehr von ihr gehört; sie ließ sich nie in der Redaktion blicken, und er hatte nicht die Muße, sie zu besuchen, selbst wenn er auf die Idee gekommen wäre – was nicht der Fall war. Allenfalls dachte er ab und zu neidisch an die vielen Bücherreihen in dem Zimmer, in dem sie ihn empfangen hatte.
« Natürlich», sagte Tarrant,«da ist schon einiges … gewiss … nur, vielleicht … ich merke schon, im Innersten sind Sie Traditionalist. »Er zögerte.«Vielleicht nicht schlecht … dieses ewige ‹Tabula rasa› wird allmählich langweilig, oder? Aber es lässt sich nicht leugnen …»
« Hier fragt jemand nach Mr Weston», ließ sich eine Stimme durch die Tür des Chefbüros vernehmen. Tarrant wirkte erleichtert, dass er nicht gezwungen war, sich näher festzulegen, und Vance, erstaunt über die Aufforderung, ging hinaus ins Vorzimmer.
Dort stand Bunty Hayes. Sein Gesicht war hochrot und glänzte wie von der Kälte oder vom Trinken, und in dem engen Raum wirkte er überlebensgroß. Wütend starrte er Vance an.« Da sind Sie ja. Spielen den Intellektuellen, oder wie? Nennen sich Zeitschriftenredakteur! Jetzt werd ich Ihnen sagen, wie ich Sie nenne.»Und er überschüttete ihn mit Flüchen und Verwünschungen.
Vance ließ sie schweigend über sich ergehen, doch sein Schweigen fachte die Wut des anderen nur weiter an.«He, haben Sie mir weiter nix zu sagen, lassen Sie sich alles gefallen? So, dann verpass ich Ihnen jetzt eine, dass Sie nicht mehr
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