Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
jedenfalls ganz schön geschämt.»
    « Dann hat er das rasch überwunden. Er hat nicht mehr daran gedacht, als er vorhin hier war.»
    Tarrant fuhr überrascht herum, und sie erzählte gemütlich weiter:«Etwa vor einer Stunde. Er kam auf dem Weg zum Bahnhof hereingestürmt, unter den Weihnachtseinkäufen seiner Schwiegermutter schwankend, mit einem ganz besonderen Anliegen. Du wirst es nie erraten.»
    « Warum sollte ich», brummte Tarrant.
    « Versuch’s!»
    Er antwortete mit einem weiteren Achselzucken – diesmal einem gleichgültigen.
    « Er wollte sich Tolstoi und Dostojewski ausleihen. Er hatte noch nie von ihnen gehört. Natürlich auch nicht von Tschechow und den neueren … Anscheinend hat in der Redaktion jemand ‹die Russen› erwähnt, und sobald er mit der Arbeit fertig war, sauste er zur Stadtbibliothek, aber die war geschlossen, und so kam er hierher. Reizend von ihm, fand ich. Er sagte nicht guten Tag oder sonst etwas Überflüssiges. Er sagte nur: ‹Wer sind die Russen? Ich will sie lesen. Haben Sie sie?› Und zog reich versorgt von dannen.»
    Sie versank wieder in ihrem Kissen und schloss die Augen über diesem Bild. Das Feuer prasselte gesellig, und Tarrants Zigarrenrauch wob eine wohltuende Wolke um ihrer beider Schweigen. Selbst mit geschlossenen Augen erriet sie, dass irgendetwas langsam die harte Kruste seines Unmuts durchbrach. Berechnung? Ungewissheit? Egal … Nach einer Weile sagte er, mehr zu sich als zu ihr:«Na, vielleicht hatte er doch recht, als er nicht zuließ, dass der Kerl in der Redaktion Krawall schlug. Nur fällt das auch auf mich zurück, wenn ein Mann den Anschein erweckt, er würde kneifen …»
    « Ach, aber du …», murmelte seine Frau, schlug die Augen auf und erwiderte sein zufriedenes Lächeln.
    Doch nicht auf seinem Gesicht ruhte ihr Blick. Er richtete sich nach innen. Ihr war plötzlich das widerfahren, was zwischen zwei Menschen in jeder noch so späten Phase der Bekanntschaft oder Freundschaft geschehen kann: Sie hatte Vance Weston an diesem Nachmittag zum ersten Mal gesehen – im wirklichen, eigentlichen Sinne gesehen . Bisher war ihr Blick nur wie ein kurz aufleuchtendes Glühwürmchen über ihn hinweggestreift – anfangs neugierig, dann interessiert, dann auch bewundernd. Sie hatte nur einen nebelhaften Eindruck von ihm gewonnen, allenfalls einen schwachen Schimmer erhascht, sozusagen wie durch einen Riss in der Nebelwand – hie und da ein paar äußere Nebensächlichkeiten. Nun besaß sie ihn auf einmal ganz, glaubte hinter seinen beweglichen Zügen die Kraft zu erkennen, die diese geformt hatte. So unausgeglichen und unentschlossen das Gesicht mit seiner seltsamen Mischung aus Reife und Knabenhaftigkeit, Instabilität und Kraft auch wirken mochte – sie nahm es plötzlich als Teil von jenem Etwas wahr, das diese Widersprüche miteinander versöhnte und zusammenhielt wie eine starke Konturlinie. Machte dies das Genie aus? Und dieser Junge mit dem zerzausten braunen Haar, der resolut geschwungenen Stirn und Nase, dem grübelnden, leidenschaftlichen Mund und der durchdringenden, ungeschulten Stimme – waren aus solchem Holz Genies geschnitzt? Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als habe es zusammen mit ihrem Verstand innegehalten, um ihn zu betrachten.«Es ist, als sähe ich ihn tot», überlegte sie, so gänzlich aufs Wesentliche reduziert wirkte sein Gesicht. Und sie dachte erschauernd daran, dass einem vom Antlitz eines Toten jeder Zug in Erinnerung bleibt …
    « Damit habe ich nicht gerechnet», murmelte sie, und dann:« Ein Feigling …!»Sie zwang ihren Blick zurück in die Gegenwart und erwiderte das Lächeln ihres Mannes.

    Die erste Nummer der«Neuen Stunde»war ein Volltreffer. Die Verkaufszahlen machten in der New Yorker Verlagswelt die Runde, und die Krönung des Erfolgs war«Nicht abgeholt», die stille Erzählung eines jungen Autors, von dem bislang niemand gehört hatte. Auch noch eine Kriegsgeschichte, eine enorme Erschwernis! Doch alle waren sich einig, dass diese Erzählung einen neuen Ton anschlug. Das Publikum hatte zwar die neuen Töne satt, wagte jedoch nichts ohne dieses Beiwort zu loben, so erklärte es Frenside.«Und es ist ein neuer Ton, das habe ich sofort gemerkt, als er mir die Sache vorlegte», brummte Tarrant und fügte ungehalten hinzu:«Wenn ein neuer Autor auf dich angewiesen wäre, um eine Chance zu bekommen …»
    « Wo ist meine Laterne?», 61 spöttelte Frenside, doch der Stachel seines Spotts ging unter in der warmen

Weitere Kostenlose Bücher