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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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galten. Sein Ärger machte ihm die Antwort leichter, als wenn der Brief herzlicher gewesen wäre. Der Vater werde ihm doch nicht im Ernst raten – einmal angenommen, er würde überhaupt vertragsbrüchig werden wollen –, eine gute Stelle in New York für eine zweifelhafte Tätigkeit in Euphoria aufzugeben. Er danke den Eltern, dass sie ihm und seiner Frau ein Zimmer anboten, aber die Schwiegermutter habe sie bereits in Paul’s Landing aufgenommen. Er brachte diesen Brief zur Post, ohne Mrs Tracy oder Laura Lou zu sagen, dass er schon etwas von seiner Mutter gehört hatte. Der Großmutter schrieb er liebevoll, denn er wusste, dass eine Bibel und ein Jahresabonnement für«Licht der Seele»das Äußerste war, was sie sich leisten konnte, und der Ton ihres Briefes rührte ihn. Sie war das einzige menschliche Wesen in Euphoria, das dumpf geahnt hatte, wonach er suchte; die Schwingen ihrer Seelen hatten sich einst in der Dämmerung leicht berührt …
    Die Wochen vergingen. Er brachte seinen ersten Artikel,« Coleridge heute», in die Redaktion der«Stunde», und Eric Rauch war begeistert, sagte aber, Vance müsse sich beim nächsten Mal einen Zeitgenossen vornehmen. Rauch schlug seinen eigenen Gedichtband,«Voodoo», vor, und Vance errötete angesichts dieses Vorschlags und murmelte etwas. Das Büchlein hatte ihn interessiert und verwirrt; verwundert hatte er unter dem modernen Getöse viele halb vertraute Töne gefunden. Er sagte, er sei noch nicht so weit; er habe noch nicht genug neue Dichtung gelesen und verstanden, um sich daran zu wagen. Eric Rauch erwiderte mit seinem gewinnenden Lächeln:«Aber genau so etwas suchen wir doch für ‹Die Stunde›: die ersten Reaktionen eines ungeübten Lesers. Wir wollen die Vergangenheit auslöschen und die Dinge mit anderen Augen sehen. Normale Rezensionen können wir haufenweise bekommen.»Bedrückt fuhr Vance nach Hause und versuchte sich unterwegs abzulenken, indem er sich Sujets für seine nächste Erzählung ausdachte.
    Nein, nicht Sujets, die gab es im Überfluss, sie umschwärmten ihn wie Bienen, summten in seinen Ohren wie Moskitos. Zu manchen Zeiten konnte er die wirkliche Welt kaum noch sehen, so stürmten seine Visionen auf ihn ein. Er suchte vielmehr nach dem weiteren Werdegang dieser Visionen, wollte herausbekommen, wohin sie führten. Seine Phantasie arbeitete langsam, abgesehen von den wenigen Augenblicken des glühenden Einsseins mit der Kraft, die sie speiste. Dazwischen brauchte er Zeit, um über seinen Stoffen zu brüten, sie in sich kreisen zu lassen. Und zunehmend spürte er, während sein Leben sich weitete, wie klein sein Vorrat an Erfahrung war. Er brauchte Zeit für sich selbst – Zeit, damit sein Geist reifen konnte, damit ihm Dinge widerfuhren und er sie dabei beobachten konnte, ohne sie allzu rasch interpretieren oder gestalten zu müssen. Er wollte nicht alle seine Bäume für Brennholz fällen. All dies gärte noch wirr und unausgesprochen in ihm; das spürte er am deutlichsten, wenn seine Phantasie nach einem Stoff griff und zu dessen innerstem Kern vordringen wollte, und wenn er dann vor Unerfahrenheit ins Stocken geriet, vor Unfähigkeit, diesen Fang zum Rest der Welt in Beziehung zu setzen. Erfahrungen waren für ihn keine sorgsam geschiedenen Einheiten; bei allem, was er sah und in sich aufnahm, brachen Ranken, rissen Fäden, an denen noch etwas vom Boden des Lebens hing, und er kannte erst so wenige Zoll dieses Bodens! Der Rest war fremdländisches Gebiet. Nie schien er fähig, ins Herz seiner Sujets vorzudringen … Als er nun in Paul’s Landing aus dem Zug stieg, stand da Laura Lou in der Winterdämmerung, ein wenig zusammengeschnurrt von der Kälte, aber mit Augen aus blauem Feuer und Lippen, die auf den seinen brannten – und er fragte sich, ob er nicht zum Dichter bestimmt war …

    Zwei-, dreimal in der Woche ging er in die Redaktion der« Stunde». Tarrant hätte ihn gern jeden Tag dort gesehen, aber dann wäre er nicht mehr zum Schreiben gekommen. Er hatte zum Arbeiten immer allein sein müssen; außerdem war die Fahrt hin und zurück eindeutig Zeit- und Geldverschwendung.
    Er stellte bald fest, dass schon dieses zeitweilige Fernsein Laura Lou zusetzte. Sie machte ihm keine Vorwürfe, sie litt einfach, wenn er nicht da war. Sobald er zurückkam, musste er ihr erzählen, was er erlebt hatte, musste die Menschen beschreiben, die er getroffen, alles wiederholen, was dieser gesagt oder jener getan hatte, und er bemerkte aufs Neue,

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