Ein altes Haus am Hudson River
Morgendämmerung vor zwei verstörten Frauen zu stehen, die sich schon für großherzig hielten, wenn sie ihn nicht verhörten wie einen pflichtvergessenen Schuljungen. Er wollte besuchen, wen er mochte, wollte gehen, wohin es ihn zog, wollte schreiben, wozu es ihn trieb – er wollte frei sein, frei, frei an Körper und Geist, ja, und an Herz und Seele. Das war das Schlimmste daran: Wenn das Leben noch lange so weiterging, würde seine Liebe zu Laura Lou zu wohlwollendem Mitleid verblassen, und dann hatte nichts mehr einen Sinn.
Der Nachmittag schleppte sich dahin. Vance konnte nicht schreiben; das Gedicht war verschwunden wie ein Nebelhauch. Er saß da, starrte aufs Papier und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Plötzlich fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, heute Nachmittag Mrs Pulsifer und Tristram Fynes zu besuchen, stattdessen saß er hier in Mrs Tracys Esszimmer, schaute hinaus auf ihr gefrorenes Fleckchen Garten und das kalte Purpurrot der Berge und tat nichts und sah kein Licht am Horizont. Als die Dämmerung nahte, packte ihn die Lust, zum Bahnhof zu laufen, in den ersten Zug nach New York zu springen und seine beiden Besuche abzustatten. Dann fiel ihm ein, dass die Städter immer viele Termine hatten und ohne Verabredung nicht anzutreffen waren oder sich womöglich ärgerten, wenn jemand unerwartet hereinplatzte. Außerdem hatte er keine besondere Lust, Fynes oder diese Pulsifer zu besuchen – eigentlich wollte er nur die Luft atmen, die auch sie atmeten. Aber das war schon wieder ein Unterschied, den Laura Lou nie verstehen würde …
Der nächste Morgen brach an und damit jener Wochentag, den Vance üblicherweise in der Redaktion verbrachte. Doch ein dunkles Sträuben hinderte ihn daran, nach New York zurückzufahren. Wenn er dort wäre, würde Eric Rauch ihn nach dem nächsten Artikel fragen, von dem er noch keine Zeile geschrieben hatte und für den er noch nicht einmal ein Thema gewählt hatte. Und Tarrant würde ihn in sein Allerheiligstes rufen und wissen wollen, ob sie nicht den Titel seiner nächsten Kurzgeschichte ankündigen könnten, solange den Lesern«Nicht abgeholt »frisch in Erinnerung war. Und auch für diese Erzählung hatte er sich noch kein Sujet ausgesucht – so viele boten sich an, aber keines, das er gern in Angriff genommen hätte. Gedichte … Gedichte waren es, die ihn jetzt erfüllten …
Er erhob sich früh von Laura Lous Seite, riss das Fenster auf, lehnte sich hinaus und trank in langen Zügen das winterliche Gold und Scharlachrot des Sonnenaufgangs. Der Himmel erschien unermesslich fern, rein und kalt über den Bergen, nur über dem Kamm plusterte sich das Gold und Scharlachrot fedriger Wolken wie Daunen an der Brust eines Märchenvogels. Was hatte, damit verglichen, die Stadt zu bieten? Vance dachte an den sommerlichen Sonnenaufgang, den er mit Halo Spear vom Thundertop aus gesehen hatte. Damals hatte er so hoch oben gestanden, dass er zusehen konnte, wie sich der neue Tag da unten über die Erde mit all ihren Falten, Vertiefungen und geheimsten Höhlen ergoss, und die Schönheit hatte seine Seele randvoll mit ebendiesem Glanz erfüllt. Jetzt schaute er aus der engen Fensteröffnung eines kleinen Hauses hinaus auf ein Fleckchen Garten mit Johannisbeersträuchern und auf eine hingekauerte Bergkette, hinter der die Sonne eingesperrt schien – so wie er selbst vom Schicksal eingesperrt war. Vom Schicksal? Unsinn – durch seine eigene überstürzte Dummheit. Aber konnte ein Mann, wenn die Sirenen sangen, weghören? Und wie sollte er unterscheiden zwischen der ewigen Schönheit und ihren gefälschten Ebenbildern, den kurzlebigen Geschöpfen, die sie im Vorübergehen aufleuchten ließ? Etwas flüsterte ihm zu:« Erschaffe selbst ewige Schönheit, dann weißt du es …», und er schloss das Fenster und kehrte zurück in das niedrige Zimmer, wo er hingehörte.
Doch das Leben bestand nicht nur aus Hürden und Hindernissen. In der zweiten Nacht nach Vance’ Rückkehr kam es zu einem verspäteten Schneefall, und als er am Morgen die Fensterläden öffnete, blickte er auf eine weiß glänzende Welt unter einer Frühlingssonne. Es war Samstag, Gott sei Dank, ohnehin kein Tag, an dem er in die Redaktion fuhr. Achtundvierzig Stunden lang konnten er und Laura Lou nach Herzenslust in dieser neuen Welt herumstreifen. Der Winter war bisher streng, aber fast schneelos gewesen; jetzt, Anfang März, wo es schon nach schwellenden Knospen roch, erlebte Vance zum ersten Mal den
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