Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
Zauber des Schnees am Hudson. Wenn sie nur zum Thundertop hinaufsteigen könnten! Ob das wohl möglich war? Der Schnee lag schließlich nicht so hoch, und unter einer solchen Sonne würde er bald schmelzen. Was Laura Lou denke? Sie dachte genauso wie er; alles, was er für möglich hielt, hielt auch sie für möglich. Sie hatte in einem Schneegestöber bisher nie etwas Bewundernswertes gesehen, sondern nur den Anlass für Vergnügungen: Schuleschwänzen, Schlittenpartien, Schneeballschlachten und Rodeln. Doch jetzt, da er sie auf seine Schönheiten hingewiesen hatte, schämte sie sich, dass sie es nur als etwas zu ihrem Vergnügen Geschaffenes betrachtet hatte – als hätte sie die Vorhänge eines Heiligtums heruntergerissen, um sich damit zu verkleiden. Vance war gerührt von ihrer Willfährigkeit, ihrem leidenschaftlichen Eifer, zu sehen, was er sah, und zu hören, was er hörte – dann wieder ärgerte es ihn wider Willen, dass sie nicht mehr zu sein vermochte als sein Echo. Aber heute war die Pracht so bezwingend und wunderbar, dass sie bestimmt dafür empfänglich war.«Zieh dich warm an; wir nehmen heißen Kaffee und Sandwiches mit und schauen, wie hoch wir hinaufkommen.»Mrs Tracy war zu Upton gefahren und würde dort übernachten, also hatten sie das Häuschen ganz für sich allein und fühlten sich wieder wie Liebende in den Flitterwochen. Laura Lou füllte die Thermoskanne mit kochend heißem Kaffee, belegte ein paar Brote mit dem kalten Fleisch, das Mrs Tracy fürs Mittagessen hergerichtet hatte, und zog die Gummistiefel und ihren dicksten Mantel an. Vance wollte beim Nachbarn einen einspännigen Schlitten mieten, aber Laura Lou befürchtete, ihre Mutter könnte von dieser Extravaganz hören, deshalb gingen sie zu Fuß los und lachten und schwangen händchenhaltend die Arme hin und her wie Schulkinder. Der Schnee war weich – zu weich, um gut darin gehen zu können. Aber Vance’ Füße waren beflügelt wie damals, als er zum ersten Mal das Meer gesehen hatte, und Laura Lou hüpfte jubelnd und voller Bewunderung hinter ihm her.«O Vanny – schau doch! Ist das nicht wie Puderzucker? Oder wie diese hübschen Weihnachtskarten mit dem Glitzerzeug drauf?»Zum Glück hörte er sie kaum, sah nur das leuchtende Oval ihres Gesichts unter der struppigen Strickmütze, die sie sich bis über die rot gefrorenen Ohrläppchen gezogen hatte.
    Der Schnee hing flaumig an den Kiefern, zog sich blendend weiß über Wiesen und Weiden, verdunkelte sich zu Indigoblau am Waldrand und blitzte in allen Regenbogenfarben, wo ein halb zugeschneiter Bach ihn mit Eiszapfen säumte. Und wie beim Höhersteigen am Straßenrand jeder Farnschössling, jeder dornige, trockene Zweig in weißem Feuer glitzerte und zitterte! Wie die blaue Luft, gereinigt durch all das Weiß, auf unsichtbaren Schwingen über ihnen schwebte! Wie der ferne Himmel seine lichte Kuppel über einer Erde wölbte, deren Sünden und Hässlichkeiten allesamt ausgelöscht waren, einer erneuerten, durch eine umfassende, endgültige Absolution erlösten Erde!
    Ein Mann überholte sie mit einem Schlitten und bot ihnen an, sie mitzunehmen; er fahre Richtung Thundertop zu einem Hof weiter oben. Kurz darauf glitten sie an den Torpfosten von Eaglewood vorbei, und Vance dachte daran, wie er sie zum ersten Mal mit Miss Spear passiert hatte, als sie in der sommerlichen Morgendämmerung mit dem Auto den Berg hinaufgefahren waren. Der Anblick des Tors mit dem Vorhängeschloss, die zugeschneite Auffahrt, die tief hängenden weißen Äste der Kiefern mit den saphirblauen Schatten entführten ihn in jene Welt, die ihm Halo Spear erschlossen hatte, die Welt der Schönheit, der Dichtung, des Wissens, all der Wunder, zu denen ihm nun für immer der Zugang verwehrt war. Er war froh, als sie höher hinauf gelangten und der Mann sie an der Abzweigung zu einer Farm aussteigen und allein weitergehen ließ.«Nützt es aus – heute Nacht taut es!», rief er ihnen nach, während seine Schlittenkufen schwarze Furchen ins Weiß schnitten.
    Sie wanderten weiter bergauf, lachend und schwatzend. Es tat so gut, Laura Lou anzuschauen und ihre warme Hand in der seinen zu spüren, dass Vance vor Wohlgefühl strahlte, wie immer, wenn er etwas Schönes erlebte, was sie mit ihm teilen konnte. Schließlich gelangten sie ziemlich weit oben zu einem einsamen Schober auf einem sonnigen Felsvorsprung neben der Straße. Auf dem trockenen Boden lag noch etwas Heu, und unter diesem Schutzdach packten sie ihren

Weitere Kostenlose Bücher