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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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hinaus zu Mrs Tracy, erhoben sich in seinem trunkenen Innern Zeilen und Bilder wie Meeresgötter aus einem sommerlichen Ozean. Er vergaß, wo er war oder zu wem er zurückkehrte. Der Morgen war grau und kalt, und als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, begann er zu laufen und langte außer Atem zu Hause an. An der Tür kam ihm Laura Lou mit aufgerissenen Augen und ein wenig zitternd entgegen, doch sie zwang sich ein Begrüßungslächeln ab.«O Vanny …»Er zog sie an sich und rief:«Mach mir schnell einen Kaffee, Liebling, und sorg dafür, dass ich für den Rest des Tages nicht gestört werde, ja? Ich muss sofort ein Gedicht schreiben … ein langes … bevor das Licht erlischt.»
    « Das Licht erlischt? Wieso, es ist doch früher Morgen», erwiderte sie mit verwirrtem Blick.
    « Ja, aber nicht für dieses Licht», sagte er, löste seine Arme von ihr und lächelte sie an, als wäre sie eine ferne Erinnerung, kein fühlendes Geschöpf an seiner Brust.
    Aus der Küche tauchte Mrs Tracy auf.«Den Kaffee koche ich. Du wirst ihn wohl brauchen nach einer solchen Nacht», sagte sie finster.«Laura Lou, du gehst besser sofort nach oben und versuchst ein wenig zu schlafen», fügte sie, an ihre Tochter gewandt, im selben Ton hinzu.

    Sie verstanden nicht. Sie würden nie verstehen, diese Frauen. Mrs Tracy dachte sicherlich an jene andere Nacht mit Upton, die Nacht der Ausschweifungen nach dem Baseballspiel; und vielleicht verdächtigte ihn auch Laura Lou, obwohl sie es nie zugeben würde. Und niemals würde er den beiden begreiflich machen können, dass er jetzt von Gedichten berauscht war … Mrs Tracy brachte ihm den Kaffee (zugegeben siedend heiß) ins Esszimmer, schürte das Feuer und ließ ihn am Schreibtisch allein. Der Kopf sank ihm zwischen die Hände, und er murmelte vor sich hin:«Gold über Gold, Trompeten gleich im ersten Sonnenlicht …»Das hatte sich herrlich angehört, als er es im Zug dösend vor sich hin gesummt hatte, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher …
    Als Mrs Tracy vier Stunden später hereinkam, um den Tisch fürs Mittagessen zu decken, schrak er auf dem harten Sofa aus tiefem Schlaf hoch.«Nein, sie ist noch viel schöner …», stammelte er, und seine Schwiegermutter wies ihn zurecht, während sie die Teller verteilte:«Am besten redest du gar nicht mehr darüber. Wenn du den Mund hältst, halt ich den meinen auch.»
    Vance starrte sie an und strich sich das zerzauste Haar zurück.« Es war jemand – aus einem Gedicht …», sagte er, und Mrs Tracy erwiderte mit ihrem freudlosen Lachen:«So nennt man das jetzt in New York? Geh lieber nach oben und wasch dich», fügte sie hinzu, und als Vance die verstreuten leeren Blätter auf seinem Schreibtisch sah, merkte er, dass er wohl, gleich nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, eingeschlafen war, ohne eine einzige Zeile seines Gedichts geschrieben zu haben.
    Laura Lou zu beruhigen war nicht schwer. Sie sah ein, dass er als Redaktionsmitglied der«Neuen Stunde»auf der Party der Tarrants anwesend sein musste; er entlockte ihr sogar ein Lachen darüber, dass er den Zug verpasst hatte. Sie wollte wissen, wo er von den Tarrants aus hingegangen und ob er nicht erschöpft gewesen sei, weil er so lange am Bahnhof habe warten müssen, und er antwortete ausweichend, nein, das habe ihm nichts ausgemacht. Er fürchtete, dass es sie nur erneut beunruhigen würde, wenn er das«Loafers’»erwähnte. Er war selbst unruhig genug. Ihn quälte das Gedicht, das er schreiben wollte; außerdem ärgerte ihn der Gedanke, dass er an seinen nächsten monatlichen Artikel gekettet war (sie mussten immer einen Monat im Voraus fertig sein), dann an eine Kurzgeschichte und schließlich an einen Roman, und im Augenblick hatte er zu nichts von alledem die geringste Lust. Wie hatte er so verrückt sein können, den Kopf in eine solche Schlinge zu stecken? Er dachte an Frensides Warnung und verfluchte sich, dass er sie nicht beachtet hatte. Was er bei der«Neuen Stunde»verdiente (vorausgesetzt, er erfüllte seinen Vertrag), reichte nicht, um ihn und seine Frau zu ernähren, wenn sie Paul’s Landing einmal verlassen mussten – und Paul’s Landing zu verlassen war inzwischen zur alles beherrschenden Sehnsucht geworden. Er wünschte sich dringender denn je, wieder in New York zu sein, unter all den Freunden, mit denen er reden konnte. Er wollte in der Lage sein, einen Abend bei den Tarrants zu verbringen – und warum nicht auch im«Loafers’» –, ohne in der

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