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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Imbiss aus und machten es sich mit heißem Kaffee gemütlich. Laura Lou, in der wärmsten Ecke ins Heu gekuschelt, warf ihre Mütze ab, und Vance sah, zu ihren Füßen ausgestreckt, zu, wie die Sonne ihr Haar in ein goldenes Filigran und ihre Lippen in Juwelen verwandelte.« Glücklich?», fragte er, und ihre Augen strahlten zustimmend.
    Er hatte ihr nie von Bunty Hayes’ Besuch erzählt, und sie hatte nie mit ihm über den Brief gesprochen, den er vom Boden aufgehoben und gelesen hatte. Bestimmt hatte sie ihn beantwortet oder Hayes auf andere Weise die Wahrheit mitgeteilt, das war wahrscheinlich der Grund für die Szene in der Redaktion gewesen. Als Vance zu ihr hochblickte, beunruhigte ihn dunkel der Gedanke, dass hinter dieser niedrigen, runden Stirn mit den widerspenstigen Locken im Verborgenen eine ganze Welt lauerte. Dieses kleine Geschöpf, das so durchsichtig schien wie ein Kristallkelch (sein«Becherchen»hatte er sie einmal genannt), diese Laura Lou war wie alle ihresgleichen ein bemalter Schleier über dem Unbekannten. Bestimmt erschien auch er in ihren Augen so, doch wusste sie unendlich viel weniger von ihm als er von ihr, und sei es nur, weil es von ihm so viel mehr zu wissen gab. Als er so dalag und über diese Geheimnisse nachsann, fragte er sich, ob nicht genau jetzt der rechte Augenblick zum Reden war. Er bereute nicht im Geringsten, was sie Bunty Hayes angetan hatten. Weder Vance noch Laura Lou traf eine Schuld, der Druck des Schicksals war zu stark gewesen. Aber er dachte nicht gern daran, wie sie ihn seither behandelt hatten. Der armselige Liebesbrief ging ihm nicht aus dem Kopf, und er hätte gern herausbekommen, ob Laura Lou sich auch daran erinnerte. Wenn er hätte sicher sein können, dass ihr Schweigen auf dasselbe Gefühl zurückzuführen war wie das seine und nicht auf schäbige Heimlichtuerei, hätte sie das noch viel enger zusammengeschweißt … Doch wie er so dalag und ihr schläfriges Lächeln in sich hineintrank, fühlte er in sich dasselbe Widerstreben, das er in ihr vermutete, das Widerstreben, diese vollkommene Stunde zu zerstören. Warum sollten sie diese Episode nicht in Vergessenheit geraten lassen? Im Leben selbst der anständigsten Menschen gab es Dinge, die Scharten hinterließen und das Gefühl, einem verwundeten Vogel im Dickicht achtlos den Rücken gekehrt zu haben …
    « Komm!», rief Vance und sprang auf.«Ich möchte noch zum Kamm gehen, du nicht? Von da sehen wir die ganze Welt … Versuchen wir’s.»Und auch sie sprang auf und wiederholte freudig:« Ja, versuchen wir’s!»

    Von da an schien der Tag auf Silberschwingen hinwegzurasen. Funkelnde, stürmische Stunden und schattengesprenkeltes Sonnenlicht wirbelten vorbei wie die Gischt dahinschießender Wellen. Vance konnte es kaum glauben, als ohne warnendes Vorzeichen die Abenddämmerung hereinbrach, das Zwielicht mit seinen düsteren Schatten und der Leichenblässe des unbesonnten Schnees.
    Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass Laura Lou furchtbar müde sein musste. Er hätte früher daran denken sollen. Bestürzt merkte er, wie hoch sie gestiegen waren; doch als sie sich an den langen Abstieg machten, versicherte sie ihm immer wieder mit fröhlicher Stimme, nein, sie fühle sich ausgezeichnet, sie habe jede Minute genossen, wirklich … und ach, Vanny, dort sei der Neumond, ob er ihn auch sehe? Wie eine Diamantbrosche dort oben in den Zweigen, auch noch über ihrer rechten Schulter, was für ein Glück! 64 Ihr Ton beruhigte ihn, und er lachte und küsste sie und legte den Arm um sie, um ihr die endlosen Serpentinen hinunterzuhelfen. Es war dunkle Nacht, als sie ausgekühlt und hungrig an ihrem Häuschen ankamen. Vance tastete unter der Fußmatte nach dem Schlüssel und schob Laura Lou in den Flur. Wie schwarz es da drinnen war und wie kalt! Am Vormittag war es lustig gewesen, das Haus ganz für sich zu haben, aber jetzt hätte er um den Preis eines Feuers und eines Abendessens sogar Mrs Tracys dröges Gemäkel ertragen.
    Vance rieb ein Zündholz an und griff nach der Flurlampe. Als es hell wurde, wandte er sich um und sah auf dem Fußboden ein Telegramm liegen, das jemand in ihrer Abwesenheit unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Laura Lou bückte sich und hob es auf.«Es ist sicher von Mutter, sie wird uns sagen, mit welchem Zug sie zurückkommt.»Sie öffnete das Telegramm und betrachtete es mit ratlosem Stirnrunzeln. Dann las sie laut vor:
    « ‹SCHRECKLICH BEUNRUHIGT WEIL GESTERN NICHT GEKOMMEN WAS WAR LOS

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