Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
einer Fremden. Sie sah ihn voller Entsetzen an, richtete sich auf und stieß ihn zurück.«Oh, geh weg, geh weg! Du sollst mir Vanny nicht nehmen … du sollst nicht!»Eine Weile redete sie so weiter, im Kampf gegen ein hartnäckiges, unsichtbares Wesen, dann sank sie zurück, und Tränen der Schwäche quollen unter ihren Lidern hervor, die sie vor ihrem Mann geschlossen hatte. Vance warf sich neben sie aufs Bett und umarmte sie flehentlich.«Laura Lou, Laura Lou, Vanny ist doch hier, Liebste, Vanny hält dich fest …»Leidenschaftlich murmelnd, strich er ihr das Haar aus der Stirn, und allmählich entspannte sich ihr verzerrtes Gesicht, sie öffnete die Augen und versuchte zu lächeln.«Bist du es, Vanny? Geh nicht fort … du lässt mich nie mehr allein, ja?»Sie nickte an seiner Schulter für ein paar Minuten ein, bis der Husten sie wieder aufweckte.
    Als der Morgen kam, mochte sie die angewärmte Milch nicht trinken, wälzte sich herum und hustete trocken und elend. Was war das? Bronchitis? Ihn verließ aller Mut. Was tat man bei Bronchitis? Es gab kein Telefon und keinen Nachbarn in der Nähe außer einer alten, schwerhörigen Frau, die wahrscheinlich keine große Hilfe sein würde – selbst wenn Vance dem Krankenbett lange genug fernbleiben könnte, um sie zu holen. Er beschloss, zu dem Haus der Schwerhörigen hinüberzulaufen und ihrem Enkel, einem faulen Burschen, der sich mit Mrs Tracy nicht gerade gut verstand, eine Belohnung zu versprechen, wenn er mit dem Rad nach Paul’s Landing fahren und den Arzt holen würde, aber immer wenn er versuchte, aus dem Zimmer zu schleichen, knarzten seine Schuhe oder ein Dielenbrett knackte, und Laura Lou schreckte hoch.«Lass mich nicht allein, Vanny, du darfst mich nicht allein lassen … », und so schleppten sich die Stunden träge dahin. Vance kramte eine alte Flasche Hustensaft hervor und verabreichte ihr ein wenig, aber das verschaffte ihr keine Erleichterung, und die Hände, die sie um seinen Hals legte, wurden immer trockener und heißer. Es war, als verzehre das Fieber sie sichtbar, so schmächtig und abgezehrt war ihr ruheloser Körper geworden. Während er so dasaß und wachte, wurde sie ihrerseits zu einer Fremden für ihn: Dieser ausgezehrte Wechselbalg war nicht das zarte Geschöpf, das er liebte. Die Entdeckung der verletzlichen Grenzen der Persönlichkeit, der Verwandlung dessen, was im Fluss des Lebens scheinbar am nächsten und unverrückbarsten gewesen war, lockte sein Gehirn in ein Labyrinth von Mutmaßungen. Wer war sie, dieses geliebte und doch so unbekannte Wesen? Etwas in ihr verzehrte sich nach ihm und klammerte sich an ihn, doch wenn er versuchte, dieses Etwas zu packen, war es nicht da. Unbekannte Kräfte hatten von ihr Besitz ergriffen, sie wanderte auf Wegen, auf denen er ihr nicht folgen konnte. Ab und zu stand er auf und legte Holz nach, ab und zu benetzte er ein Taschentuch mit Kölnischwasser und legte es ihr auf die Stirn, oder er schüttelte ungeschickt die Kissen auf. Aber all das tat er mechanisch, als befände auch er sich woanders, auf ebenso einsamen Wegen wie sie …
    Waren wir deshalb alle im Grund so allein? Denn konnten uns nicht, auch wenn wir uns selig mit anderen vereinigten, unter den vertrauten Brauen hervor jederzeit die leeren Augen eines Fremden anblicken? Aber wo war dann die eigentliche Urpersönlichkeit, eines jeden Menschen unzerstörbares innerstes Selbst? Wo versteckte es sich, woraus war es gemacht, welche Gesetze regierten es? Woraus bestand dieser Vance Weston, der doch er selbst geblieben sein musste, obwohl Krankheit, Sorge und Zusammenbruch die vertraute Oberfläche seines Daseins zerstört hatten? Oder gab es keinen solchen unwandelbaren Kern? Würden er und Laura Lou und alle ihresgleichen am Ende in jenes unermessliche, unpersönliche göttliche All zurückfließen, das seine Knabenträume beherrscht hatte? Doch diese kleinen Hände mit den ineinander verschlungenen Fingern, die dicht bewimperten Augen, die Höhlungen unter den Wangenknochen – die gehörten zu Laura Lou und sonst niemandem, sie gehörten zu dem Körper, den er vergötterte, dessen liebliche Geheimnisse auch die seinen waren …

    Er schreckte mit blinzelnden Augen hoch. Im Zimmer war es dunkel, das Feuer war ausgegangen. War er eingeschlafen, während er versucht hatte, seine Frau in den Schlaf zu wiegen? Dumpf wurde er sich bewusst, dass jemand hereingekommen war, dass jemand herumtastete, ein Streichholz anstrich und ihm eine Kerze

Weitere Kostenlose Bücher