Ein altes Haus am Hudson River
ihre eigenen und war immer vor ihm da. Er konnte sich weder erinnern, wie es zu dieser stillschweigenden Vereinbarung gekommen war, noch auf wessen Anregung sie beide nach der nachmittäglichen Arbeit stets jedes Buch an seinen Platz zurückstellten, das Manuskript in ein Schränkchen unter den Bücherregalen sperrten und die Zigarettenstummel im Beet unter dem Fenster vergruben. An dem Tag, als Mrs Tarrant zum ersten Mal überraschend in die Bibliothek gekommen war, hatte Vance zugegeben, seine Frau und seine Schwiegermutter wüssten nicht, dass er nach The Willows zum Arbeiten kam, und Gründe genannt, warum er seine Besuche geheim halten wollte. Sie hatte ihn sofort verstanden – wann tat sie das nicht? –, und alle späteren Vorsichtsmaßnahmen waren aus diesem knappen Geständnis erwachsen, ohne weitere Stellungnahmen oder Fragen, soweit er sich erinnern konnte.
Das war eine ihrer kostbaren Eigenschaften, für ihn vielleicht die kostbarste: wie selbstverständlich sie etwas nahm und nicht immer darauf herumritt. Und dass sie keine Fragen stellte – keine persönlichen Fragen. In der Welt von Euphoria und den Tracys taten die Frauen nichts anderes, als immer nur zu fragen. Sie hörten nie auf zu fragen. Das Einzige, was sie anscheinend unfehlbar interessierte, war das, was ein Mann möglicherweise für sich behalten wollte. Sie hatten Nasen wie Spürhunde für solche speziellen Dinge, wie immer sie geartet sein mochten; einen Großteil der Zeit, die ein Mann fern von den Frauen seiner Familie verbrachte, verging mit dem Erfinden von Ausflüchten, wie er sie verbracht hatte. Schon wenn einer nur zum Bahnhof spaziert war, um den Expresszug aus Chicago einfahren zu sehen, erfand er aus reiner Gewohnheit eine Geschichte … Bei Mrs Tarrant war das nicht so. Sie stürzte sich immer geradewegs aufs Wesentliche. Jedenfalls schien es sie nicht zu interessieren, was Vance trieb, wenn er nicht bei ihr war, eine Gleichgültigkeit, die er bei einer Freundin ebenso erstaunlich fand wie bei einer Ehefrau oder Geliebten. Niemand hatte ihn je neugieriger ins Kreuzverhör genommen als seine Schwestern; doch diese Frau, mit der er brüderlich vertraut verkehrte, die mit ihm fast täglich den langen, stillen Mittsommernachmittag verbrachte, schien nur an den Stunden interessiert, die sie zusammen in leidenschaftlicher geistiger Gemeinsamkeit erlebten. Im Grunde hatte er niemals, weder in Halo Spear noch in Halo Tarrant, nur ein schlichtes Menschengeschöpf gesehen, sondern immer eine geheimnisvolle Hüterin des Unbekannten, ein Wesen, das die Schlüssel zum Wissen besaß und es ihm zugänglich und reizvoll machen konnte. Als sie ihn zum ersten Mal bei der Arbeit an seiner neuen Erzählung angetroffen hatte, war sie mit ihm in seine Zauberwelt eingetaucht, und dort trafen sie sich nun jeden Nachmittag. Sie hatte sich auf seinen Einfall, das alte Haus und seine Bewohner zu beschwören, sofort eingelassen, und während er Fortschritte machte, war sie beständig zugegen und versorgte ihn mit Kostbarkeiten, wie eine Schülerin, die dem allzu sehr in die Arbeit vertieften Künstler eine Stärkung bringt. Doch eigentlich war er der Schüler, nicht sie, er, der in jedem Stadium etwas von ihr lernen konnte. Er hatte seine frische, noch unbeeinflusste Phantasie dem Studium des alten Hauses und der darin verbrachten Leben gewidmet – ein Stoff, der ihr zu nahe war, um interessant zu sein, für ihn aber fern und poetisch war wie die Kreuzzüge oder die Kriege Alexanders des Großen. Er merkte, dass es sie faszinierte, wie die von ihr gelieferten kuriosen und anheimelnden Details dieser Vergangenheit von seiner Vision aufgesaugt, in seinen Plan eingewoben wurden.«Ich verstehe nicht, wie Sie fühlen können, was diese Menschen gefühlt haben müssen. Vielleicht, weil sie für Sie schon Geschichte sind … Vergessen Sie nicht, dass Alida»(Elinor Lorburn war zu Alida Thorpe geworden)«immer ein Tüchlein mit einem breiten Spitzensaum in der Hand trug, wie jenes, das ich Ihnen gestern aus Eaglewood mitgebracht habe … Das ist wichtig, denn so kam es, dass die Damen ihre Hände ganz anders benutzten und vielleicht auch ihren Verstand … wie die alten Herren, an die ich mich noch aus meiner Kindheit erinnere, die bei kurzen Höflichkeitsbesuchen immer Hut und Mantel in den Salon mitnahmen. Und ihr Hochzeitskleid»(denn ihre Alida sollte auf eine Heirat hoffen dürfen)«müsste wohl so sein wie das meiner Ururgroßmutter: Indisch Leinen, in
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