Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
Madras bestickt und importiert von den Kaufleuten ihres Großvaters. Denn natürlich wurde aller Putz über Generationen in den alten Truhen verstaut, die wir auf dem Speicher gefunden haben. Elinor war die wandelnde Verkörperung von sechs oder sieben Generationen – das letzte Kapitel einer langen, gemessen voranschreitenden Geschichte.»
    « Ah! Gemessen voranschreitend! Das ist es! Wenn ich die Gangart hinbekäme, die Sie mir beim Erzählen vorgeben …»
    Er stützte seine Ellbogen auf die verstreuten Blätter und starrte sie über den Tisch hinweg an. Die langen Falten der grünen Samttischdecke hingen schlaff bis auf den Boden zwischen ihren Füßen, und von ihrem düsteren Platz über dem Kaminsims blickte Miss Lorburn nachdenklich auf das junge Paar herunter, das versuchte, sie ins Leben zurückzurufen. Halo Tarrant, die Schläfen von ihrem dunklen, gescheitelten Haar bedeckt, das schmale, hagere Gesicht verschattet, wirkte in dem gedämpften Sommerlicht fast so geisterhaft wie Miss Lorburn.«Ich würde gern wissen …», platzte Vance heraus, legte seinen Stift hin und blickte sie an.«Haben Sie auch etwas aufgeben müssen …?»
    « Etwas aufgeben?»
    « Ich meine, eine Vorstellung vom Leben.»
    « Ach so …!»Sie lachte leise.«Wer muss das nicht? Zum Glück erlangt man es manchmal wieder, in anderer Form.»Sie zeigte auf das Manuskript.«Das ist genau Ihr Thema, nicht wahr?»
    Er nickte. Der Hinweis führte ihn zu seiner Arbeit zurück. Er wusste nicht, warum er abgeschweift war und ihr diese Frage gestellt hatte, die erste persönliche Frage. Aber es gab Augenblicke, da ihre Gesichtsform und der Schwung ihrer Haare und Brauen ihn so verblüffend an die vom Leben betrogene Dame über dem Kaminsims erinnerten, dass ihn die Ähnlichkeit schmerzte. Dann wieder brach Mrs Tarrant in Gelächter aus, neckte ihn, loderte vor jugendlichen Widersprüchen und Begeisterung, und er fragte sich, wie er eine Ähnlichkeit mit dem traurigen alten Fräulein hatte ausmachen können, das an Winterabenden, über den grünen Samttisch gebeugt, Coleridge gelesen hatte.
    « Ja – aber es war Coleridge, vergessen Sie das nicht! Es war nicht ‹Der Heiligen Ewige Ruh› oder das ‹Buch der Märtyrer›.»Darauf hatte ihn Halo gleich zu Anfang hingewiesen. Vance sollte aus seiner Alida keine geborene alte Jungfer oder fromme Einsiedlerin machen. Sie musste eine liebesfähige junge Frau sein, die in den grausamen Tabus und Verboten ihrer Zeit gefangen ist und erst spät ausbricht, zu spät für eine Wiedergutmachung, die ihr nur noch in Gestalt von Gedichten, Träumen und Visionen zuteilwird … So sahen sie sie.
    Die Arbeit hatte Vance immer ganz in Anspruch genommen, ihn unwiderstehlich angezogen. Aber bisher war sie mühsam gewesen, undankbar, voller Fallstricke und Wirrsale, ebenso ermüdend wie erfreulich, und immer war er vorsichtig tastend zu Werke gegangen, Gefahren witternd, voller Angst, dass die üppigen Weiden, zu denen es ihn zog, sich in eine wasserlose Wüste verwandeln könnten. Nun fühlte er sich wohl mit seinem Stoff, seine Sicherheit wuchs, je weiter er vorankam. Denn neben ihm war da nun jenes andere Bewusstsein, wie eine Erweiterung seines eigenen, in dem jede Inspiration sofort Wurzeln schlug und erblühte und jeder Fehler verdorrte und im Unsichtbaren versank. Er erlebte zum ersten Mal die kostbarste Freude des schöpferischen Menschen: die Spiegelung seiner Schöpfung in einem anderen, aufnahmewilligen Geist; und obwohl er jung war und alles, was auf ihn zukam, so unbekümmert anpackte wie ein Kind, das die Knospen von einem Obstbaum bricht, war er sich der besonderen Qualität dieser Erfahrung zutiefst bewusst.
    « Das mit dem Tüchlein in ihrer Hand – so etwas vermittelt mir das Tempo …»Er lehnte sich zurück, wühlte in seinem Haar und starrte geradewegs in seinen Traum hinein. Er hatte die Arbeit des Nachmittags vorgelesen, und Halo saß wie immer schweigend da und ließ das Gelesene in sich einsinken.
    « Wissen Sie, schon als ich zum ersten Mal einen Fuß in dieses Haus gesetzt habe, hatte ich das Gefühl, auf eine Beständigkeit zu stoßen, die unsereiner nie erlebt hat – jedenfalls nicht dort, wo ich herkomme –, und das hat mich auf die Idee eines anderen Rhythmus gebracht, eines anderen Zeitmaßes, einer Bewegung ohne Sprünge und Brüche, die von ganz oben aus den Bergen herabströmt und die Schiffe aufs Meer hinausträgt … Ich behaupte nicht, die eine Methode sei besser als die

Weitere Kostenlose Bücher