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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Mrs Scrimser stand regungslos da. Das Gewicht ihres schweren Körpers lastete auf den aufgestützten Handflächen auf dem Tisch vor ihr, und sie wartete darauf, dass die Flut kam. Sie kam indes nicht, stattdessen ging das Publikum. Es entstand eine peinliche Pause, gefolgt von bemüht unauffälligem Stühlerücken. Mrs Spear ließ vom Podest ein«Sehr schön»ertönen, das lustlos durch den Raum trieb. Nur ganz wenige der fest entschlossenen«Suchenden»ruderten gegen den Strom auf Mrs Scrimser zu, die anderen ergossen sich etwas zu eilig durch die Esszimmertüren in Richtung des bereits flüchtig erblickten Buffets … Während Vance hinausging, sah er zwischen zwei Reißaus nehmenden Rücken den Kopf des forschen Mr Spear und hörte ihn mit seiner dünnen, krächzenden Stimme sagen:«War das nicht irgendwie ein Fehlgriff? Mir ist, als wäre ich Mrs Scrimsers Gott schon einmal begegnet – und Mrs Scrimser auch.»

38
    Am nächsten Morgen ging Vance in aller Frühe zu Mrs Mennenkoop. Er wollte seine Großmutter besuchen, bevor sie von den Propheten und Sehern belagert wurde, die Mrs Weston geplagt hatten, seit die Scrimsers unter ihr Dach gezogen waren. Die ganze Nacht hatte er wach gelegen, hin- und hergerissen zwischen Enttäuschung und Zorn auf diejenigen, die sie miterlebt hatten … Diese verdammten Nimmersatte, die immer neue Reize benötigten, um sich daran gütlich zu tun! Warum hatten sie seine Großmutter aus Euphoria, wo sie hingehörte, hierhergeschleppt und ihr eingeredet, New York brauche sie, sie habe eine«Botschaft»für die Stadt, wie das in ihrem Jargon hieß? Der gleiche Zorn, den er nach Mrs Pulsifers Abfuhr auf die Reichen empfunden hatte, flammte nun gegen diese lächerlichen« Suchenden»in ihm auf — sie suchten neue Attraktionen, neue Schlagworte, neue Marotten, die sie sich aneignen oder lächerlich machen konnten! In Euphoria hatte Mrs Scrimser ihren festen Platz in der Gesellschaft. Sie war überzeugender als die Geistlichen in den konkurrierenden Kirchen, gebildeter als deren Gemeindemitglieder. Sie besaß eine Autorität, die niemand infrage stellte – außer Mrs Weston, die keinen Sinn darin sah, anderen Leuten zu erzählen, wie sie leben sollten, solange man nicht einmal mit dem eigenen Dienstmädchen fertig wurde.
    Hier in New York war alles anders – und auch Vance war in der Zwischenzeit anders geworden. Die Welt eröffnete ihm nun eine Perspektive, und Euphoria war ein kaum wahrnehmbares Pünktchen weit draußen zwischen zwei aufeinander zustrebenden Linien. Aber in dem Maße, wie er dies verstand und wegen seiner Großmutter litt, wuchs auch seine Zärtlichkeit für sie und verwandelte sich in eine wütende Abwehrbereitschaft; begeistert hätte er jede Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich um ihretwillen mit allen Frensides und Spears zu duellieren. Lag die Sache bei ihm nicht genauso? Auch er war das Rohprodukt einer Stadt im Mittleren Westen, versuchte sich an etwas, was seine Kräfte überstieg, versuchte der Welt von Dingen zu erzählen, mit denen er im Grunde nicht vertraut war. Es verletzte seinen Stolz, wie treffend dieser Vergleich war, und das bewog ihn zu noch heftigerem Mitgefühl. Wenn er nur seine Großmutter dazu überreden könnte, diesen verrückten Kreuzzug aufzugeben, nach Euphoria zurückzukehren und ihn und Laura Lou mitzunehmen! Auf dem Weg nach Bronxville beschloss er, ihr vorzuschlagen, sie solle ihre Vortragsverpflichtungen kündigen und sofort heimfahren.
    Seine Tante Saidie Toler, die ihn empfing, teilte seine Befürchtungen nicht. Sie sagte, sie habe ihre Mutter nie inspirierter erlebt als am Abend zuvor. Zweifellos sei das New Yorker Publikum anfangs weniger zugänglich als das in den Städten des Westens, wo Mrs Scrimser bisher gesprochen habe, aber darauf habe Mrs Mennenkoop sie vorbereitet. Sie glaube, dass im Lauf des Tages ziemlich viele Bekehrte zu Mrs Scrimser kommen würden, und sei überzeugt, dass man in Brooklyn, wo die heutige Versammlung stattfinde, mehr Gemütsbewegung und Hingabe zeigen werde …
    Vance war die Ausdrucksweise seiner Tante Saidie immer ein Gräuel gewesen. Sie erinnerte ihn an einen Verkäufer, der beim Feilbieten seiner Waren gedankenlos wiederholt, was auf den Etiketten steht … Er wollte wissen, ob er nicht hineingehen und seine Großmutter sehen könne, aber Mrs Toler antwortete, es sei gerade Besuch da, ein Mann, der Vortragsreisen organisiere. Der wolle Mrs Scrimser durchs ganze Land schicken. Er bürge dafür,

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