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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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kannte nicht viele der Anwesenden; die meisten schienen anderen Bereichen der vielfältigen Betätigungsfelder Mrs Spears anzugehören. Aber sie waren bestimmt Musterbeispiele ihrer Art; Mrs Spear gab sich stets nur mit dem jeweils Allerneuesten zufrieden, selbst auf dem Gebiet der Religion. Diese Welt der geistlichen Erkundung war ihm fremd; in den Kreisen der Tarrants fanden sich keine«Suchenden», noch viel weniger im«Cocoanut Tree»oder bei Rebecca Stram. Das Publikum bestand hauptsächlich aus älteren Männern mit Bärten und Goldrandbrillen, bleichen Jünglingen und Damen unbestimmten Alters in schwarzer Seide oder fließenden Gewändern im griechischen Stil. Verblüfft bemerkte er unter ihnen Mrs Pulsifer mit Tarrant an ihrer Seite und in einem anderen Teil des Zimmers die seidig glänzenden Köpfe und juwelengeschmückten Arme einiger aparter junger Frauen, die zum Freundeskreis der Tarrants gehörten. Mit einer solchen Mischung hatte er nicht gerechnet und erst recht nicht mit dem ernsten, aufmerksamen Gesichtsausdruck der eleganten Besucher, die offenbar in gutem Glauben gekommen waren, nicht, wie er gefürchtet hatte, um zu spotten.
    Vance vergaß die Frage, ob Halo Tarrant im Zimmer war; er vergaß alles über der brennenden Neugier, welchen Eindruck seine Großmutter auf ein so seltsam gemischtes und für sie so neues Publikum machen würde. Wer sie auch immer waren, die« Suchenden»würden Mrs Scrimser bestimmt nach Maßstäben beurteilen, die anders und strenger waren als die von Euphoria oder sogar Dakin und Lakeshore, und er war innerlich gerüstet, sie zu verteidigen.
    Und da war sie nun, im weichen Licht des kleinen Podests. Während er über die erwartungsvoll gespannten Rücken der« Suchenden»zu ihr hinüberstarrte, kam es ihm vor, als wäre sie noch massiger geworden. Saidie Toler saß auf der einen Seite und sah aus wie ein Schatten, Mrs Mennenkoop auf der anderen wie eine verrunzelte Jungfer. Dazwischen blähte sich gewaltig und beherrschend die schiere Weiblichkeit.
    Mrs Scrimser erhob sich. Mrs Lotus Mennenkoop hatte ein paar Einführungsworte gesprochen; Phrasen wie«neue Botschaft»,« unsere geistliche Führerin»und«die bedeutendste Verfechterin der neuen metaphysischen Sittenlehre»waren unbeachtet verhallt, die«Suchenden»wollten Mrs Scrimser hören.
    Sie neigte sich über den Tisch ihnen zu und begann.«Begegnen Sie Gott», sagte sie, die Silben eindringlich dehnend, dann schwieg sie wieder. Ihre Stimme klang kräftiger, volltönender denn je, aber Vance’ ungeübtes Ohr war entsetzt über ihren Tonfall. Hatte sie immer schon diese abscheulich schleppenden Kehllaute gehabt?
    « Begegnen Sie Gott – das, liebe Zuhörer, wünsche ich mir für Sie und mich heute Abend … Vermutlich wissen einige von Ihnen schon etwas über Gott, und alle wissen von ihm», fuhr sie mit Nachdruck fort und verweilte liebevoll bei den betonten Wörtern. Wieder schwieg sie, die Arme nach dem Publikum ausgestreckt.«Etwa so, wie wir über die Leute in der Nachbarstraße Bescheid wissen.»(«Von denen wissen die New Yorker gar nichts», überlegte ihr Enkel.)«Oder wie wir von berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit wissen, von großen Heldengestalten oder prachtvollen, hochherzigen Frauen. Ich möchte jedoch, dass Ihr Wissen über Gott von anderer Art ist. Ich möchte, dass Sie Ihn persönlich kennenlernen, dass Sie mit Ihm bekannt werden, als ob Er einer Ihrer Nachbarn wäre, von dem Sie sich den Rasenmäher ausleihen. Sie sollen Ihn so gut kennenlernen – das möchte ich –, dass Sie sich immer alles von Ihm ausleihen, und Er gibt es Ihnen, bis Sie am Ende kaum noch wissen, was Ihnen gehört und was Ihm – und Er weiß es vielleicht auch nicht mehr. Deshalb sage ich zu Ihnen allen: Begegnen Sie Gott! Denn, liebe, geliebte Zuhörer hier in diesem Raum: Ich bin Ihm begegnet, und ich weiß, wie das ist.»
    Sie stand schweigend da, mit leuchtendem Antlitz, so wie damals, als sie von der Veranda in Crampton zum Himmel aufgeschaut hatte. Zweifellos war sie eine schöne alte Frau, dachte er und spürte, dass die Menschen ringsum ebenso dachten. Aber was hielten sie von ihrer Einleitung? Alle schwiegen; er merkte, dass ihr Urteil noch nicht feststand. Doch da war dieser grässliche Makel ihrer Aussprache, der jedes Wort entstellte und besudelte …
    Jetzt wurde sie schneller, jagte dahin auf der reißenden Flut der Offenbarung, flehte das Publikum an, zu sehen, was für sie so deutlich war, so

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