Ein altes Haus am Hudson River
himmlisch sichtbar. Das Entscheidende sei, so behauptete sie, dass Gott sich nicht nur hier oder da befinde, in Vortragssälen, in Kirchen oder auf den Lippen der Prediger. Er sei auch nicht nur im Himmel, wie fromme Menschen gern glaubten. Heute wisse man, dass der herrliche, sternenübersäte Himmel nur aus Atomen bestehe, wie das ganze Universum … all die wunderbaren Sterne, von denen die Menschen in früheren Zeiten geglaubt hätten, sie wären Engelskronen! Heute wisse man, dass Gott tausendmal größer und großartiger sei als das alles, weil Er in den Seelen der Menschen wohne; ständig erschaffe Er, werde aber auch ständig erschaffen. Die wunderliche alte Vorstellung von der Messe, von einem Priester, der Brot in Gott verwandelt, die einem aufgeklärten, modernen Geist so unverständig und barbarisch vorkomme, habe am Ende etwas für sich, wenn man sie als Symbol für die wunderbare Tatsache betrachte, dass der Mensch immer auch Gott erschaffe. Wo ein großer Gedanke geboren oder eine edle Tat vollbracht werde, da werde Gott erschaffen. Das sei die wahre Eucharistie, die wahre Erneuerung der Gottheit. Wer Gott kenne, wisse das. Er wisse, dass er in seiner eigenen Seele die Macht besitze, Gott zu erschaffen, dass jeder von uns, wie es in jenem alten Bibelwort heiße, nach der Ordnung Melchisedeks 93 ein Priester sein könne … Da rede man von der Gleichberechtigung der Menschen untereinander! Wir seien schon viel weiter. Die Neue Offenbarung werde nicht ruhen, bis sie die Gleichberechtigung des Menschen mit Gott gelehrt habe.
Aber wie, eilte sie weiter, könne man diese wunderbare Gleichberechtigung, dieses Gott-Erschaffen erreichen? Nun, das sei das Einfachste auf der Welt: durch genug Liebe. Liebe sei das Gesetz Christi, und Christus sei nur einer der großen Gottschöpfer. Sie wünsche sich, jedermann möge wie Christus sein, möge ein Christus sein. Die Welt brauche Christus millionenfach – für die Millionen. Sie brauche einen vereinheitlichten Gott, keine Kastenreligionen mehr! Keinen Gott nur für die Privilegierten und Gebildeten, keine Priesterschaft, keine Predigten für die Wohlhabenden im Chorgestühl. Nun könne ein jeder nach Hause gehen und sein eigener Christus sein, sich seinen eigenen Gott erschaffen nach dem einfachen Rezept, genug zu lieben. Man müsse nicht einmal …
Die Wortflut ergoss sich in stetem Schwall über Vance’ gebeugtes Haupt. Er mochte seine Großmutter nicht mehr ansehen. Ihre prophetischen Gesten, ihr beschwörendes Lächeln stießen ihn ab. Ihr Tonfall war salbungsvoll und segenstrunken; sie hatte sich mit ihrer Apostelrolle identifiziert. Hinter der schwankenden, wogenden Prophetin erahnte er noch immer die großherzige Frau, die seine Kindheit mit Wärme erfüllt hatte; es war bitter für ihn, dass die Menschen um ihn herum niemals wissen würden, wie sie wirklich war. Er war bereit, jeden zu hassen, der ihre weitschweifigen Sätze belächelte. Er hätte selbst darüber gelächelt, wenn sein Herz nicht so wund gewesen wäre, aber andere durften nicht lächeln. Er blickte sich argwöhnisch um, voller Furcht, irgendwo Spott zu entdecken; aber alles, was er sah, war etwas ratlose Erwartung. Das sei ja gut und schön, schienen die Gesichter um ihn herum zu sagen, aber dergleichen hätten sie schon öfter gehört. Jetzt müsse doch etwas anderes kommen. Diese inspirierte Lehrmeisterin würde ihnen das ersehnte Geheimnis offenbaren. Aber anscheinend gab es kein weiteres Geheimnis; es kam nichts anderes als ein Crescendo von Beschwörungen, jeden und alles zu lieben, ganz Liebe zu sein, ganz christusgleich, ganz gottschöpferisch …
Mrs Scrimser hielt inne. Der Raum war erfüllt von jener eigentümlichen Stimmung, die entsteht, wenn das Publikum unsicher wird und die Verbindung zum Redner verloren hat. Das Schweigen schien zu fragen: Was kommt jetzt? Vance wusste es. Zwar hatte er seine Großmutter noch nie in der Öffentlichkeit reden hören, doch war er oft mit ihr zu den Versammlungen gegangen, die sie in ihrem unausgesetzten Streben nach neuen religiösen Erfahrungen besuchte, und er kannte genau den Augenblick, in dem sich der Redner, dessen feuriger Aufruf seinen Höhepunkt erreicht hatte, auf eine aufgewühlte Reaktion gefasst machte. Es war der Moment, in dem sich hie und da einer erhob und fromme Stoßgebete keuchte, wo plötzlich aus Hunderten von Kehlen eine Hymne hervorbrach, wo Zuhörer auf die Knie fielen und laut beteten.
Nichts von alledem geschah.
Weitere Kostenlose Bücher