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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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intellektuellen Redlichkeit messen, die ihre Zuhörer ohnehin nie anlegen würden? Der Ton, in dem sie von Laura Lou gesprochen hatte, machte ihm Angst; wenn er nicht sofort ein wenig Geld auftrieb, konnten er und seine Frau nicht länger bei Mrs Hubbard wohnen bleiben, und auf die Frage seiner Großmutter, wo er Laura Lou hinzubringen gedenke, wusste er keine Antwort.
    « Ach, Vanny, schau nicht so mutlos. Du wirst schon sehen, in den großen Städten im Norden schaffe ich es. Und dann …»
    « Nein, nein», platzte er unbeherrscht heraus.«Du verstehst mich nicht, du musst zuhören. Ich kann dein Geld nicht annehmen – ganz egal, wie viel du verdienst. Ich möchte, dass du die Vorträge aufgibst, sofort. Ich möchte, dass du jetzt heimfährst, dass du morgen fährst. Merkst du nicht, Granny, dass wir beide nicht von Geld leben können, das nicht ehrlich verdient ist?»
    Mrs Scrimser stand da und lauschte mit sanfter Verwirrung. Er spürte, wie zwecklos seine Worte waren, kein Argument dieser Art durchdrang den festen Panzer ihrer Überzeugung. Unter ihrer aufrichtigen persönlichen Demut lag ein frommer Stolz, das Bewusstsein einer«Berufung», eines direkten Auftrags aus dem Jenseits. Das Wort«ehrlich»war ihr gar nicht aufgefallen, und Vance’ Bedenken schrieb sie offenbar dem Stolz des jungen Mannes zu, der sich von einer alten Frau nicht aus seinen Geldverlegenheiten helfen lassen wollte. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, und eine Weile standen sie beide da und blickten einander in betretenem Schweigen an. Dann sah er ein Zittern über ihr Gesicht huschen, und in ihren Augen zeigte sich schmerzliche Erkenntnis.
    « Vanny», sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter,« vielleicht habe ich tatsächlich nicht verstanden, was du meinst. Dann musst du es mir erklären. Befürchtest du, ich könnte deinem Ruf schaden – ein dummes altes Weib, das herumzieht und anderen Leuten Dinge erzählt, von denen es selbst nichts versteht? Ich weiß, so kam es dir und deinen vornehmen Freunden gestern Abend vor – und vielleicht möchtest du nicht, dass es überall heißt: Wer hätte gedacht, dass diese alte Wanderpredigerin mit ihrem Heilsarmee-Geschwätz die Großmutter von Vance Weston ist, dem Romancier ?»Sie schwieg und schaute ihm in die Augen.«Ist es so, Vanny? Du siehst, ich bin gar nicht so dumm.»Sie lächelte ein wenig und zog ihn an sich.«Wenn du so empfindest, mein Junge, dann muss ich es wohl sein lassen.»
    Vance fand keine Antwort. Die Worte blieben ihm im Hals stecken.«Das ist es nicht – wie kannst du nur …?», murmelte er und erwiderte ihre Umarmung. Sie griff in eine große Seidentasche, zog ein zerknittertes Taschentuch hervor und putzte ihre Brille. Nachdem sie sie wieder aufgesetzt hatte, griff sie abermals in ihre Handtasche, wühlte in der Tiefe herum und hielt schließlich einen Hundertdollarschein zwischen den Fingern. Sie glättete ihn und drückte ihn ihrem Enkel in die Hand.«Nein, der ist nicht für dich, er ist für Laura Lou. Und du kannst ruhig zulassen, dass sie ihn nimmt, Vanny» – in ihren Augen blitzte es launig auf –,«weil ich keinen Dollar davon mit Vorträgen verdient habe. Jeder Cent stammt von einem Wohltätigkeitsbasar, für den ich letzten Winter Lebkuchen gebacken habe – und weißt du was, Vanny? Das ist doppelt so viel Arbeit, wie die Leute zu Jesus zurückzulocken.»

39
    Vance hatte Lewis Tarrant lange nicht gesehen. Tarrant kam seltener in die Redaktion als früher; das Tagesgeschäft lag in den Händen von Eric Rauch, der die«Neue Stunde»nach seinen Vorstellungen gestaltete, es sei denn, der Chef tauchte unerwartet auf, warf bestehende Vereinbarungen über den Haufen und ersetzte sie durch eigene Pläne. Diese Tatsache entging der kleinen Redaktion nicht. Man munkelte, Tarrant verliere das Interesse; dann wieder hieß es, er schreibe an einem Roman; jedenfalls war man sich einig, dass es mit seinen Nerven nicht zum Besten stand. Der Umgang mit Tarrant war schon immer eine heikle Angelegenheit gewesen; Rauch war als Einziger geschmeidig genug, um ihn bei Laune zu halten, ohne sich ihm zu fügen, und selbst Rauch wusste nie im Voraus (wie er Vance sagte), ob er es schaffen würde oder nicht.«Die Schwierigkeit besteht darin, dass er Ideen für ein ganzes Dutzend Zeitschriften hat, und die will er alle in diesem einen armseligen Blättchen verwirklichen.»Die Folge war, dass der Verkauf des Blättchens zurückging; und sobald sich bei einer

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