Ein altes Haus am Hudson River
anderen Grund hielt sie alle für bemitleidenswert. Nur von sich selbst, die alt, schwerfällig und triefäugig war, Rheumatismus und Krampfadern hatte und nun auch auf dem zweiten Ohr taub zu werden begann – von sich selbst sprach sie nie mitleidig. Sie sagte lediglich, es sei schade, dass die arme Halo so lange auf The Willows warten müsse … nicht, dass es dem armen Kind viel nützte, wenn es das Haus bekäme, solange der Wert der Immobilien in Paul’s Landing weiterhin dermaßen sinke.
Seit Mrs Tracys Umzug nach Kalifornien war The Willows zum ersten Mal Händen anvertraut, die mit seiner Vergangenheit nichts zu tun hatten, und da Miss Lorburn fürchtete, die neuen Verwalter würden das Besitztum der armen Elinor womöglich nicht mit der angemessenen Achtung behandeln, oblag es Halo, nachzusehen, ob alles in Ordnung war.
Während sie die Auffahrt entlangging, stürmten die Erinnerungen auf sie ein, so weit zurückliegende Erinnerungen, dass sie sich wie eine alte Frau vorkam, alt wie die Elinor Lorburn auf dem Porträt über dem Kamin oder wie die halb blinde Invalide am Stuyvesant Square.«Ein Wunder, dass ich keine Krücken brauche», dachte sie, so schwer lastete das Gewicht der Vergangenheit auf ihren Schultern und ihrem Gemüt.
Das Haus sah aus wie eh und je – als habe es ruhig auf sie gewartet und mit sozusagen abgeklärter Gewissheit an ihre Rückkehr geglaubt –, nicht wankelmütig, nicht ungeduldig, nicht entmutigt; alles war einfach nur da, Bäume, Rasen und Haus, Jahr für Jahr blätterte mehr Farbe ab, und die tausendblütige Glyzinie bildete immer weitere Trauben aus und verschleierte gnädig die Vorsprünge und Konsolen, die sie ursprünglich hatte schmückend hervorheben sollen. Als Halo sich umsah, begriff sie zum ersten Mal, warum Vance’ unruhiger Geist in dem grotesken Auswuchs einer überlebten architektonischen Mode die Poesie der Vergangenheit entdeckt hatte. Für ihn symbolisierte das Haus Beständigkeit, diesen wertvollen Nährstoff, von dem er noch nie gehört hatte und den ihm Kunst und Natur nicht vermitteln konnten, da ihn sein Werdegang nicht auf ihren Unterricht vorbereitet hatte. Dennoch war er – ein blinder Welpe und tastender Embryo – sofort in diese Tiefe eingetaucht, als The Willows ihm einen ersten flüchtigen Einblick gewährt hatte.
Halo hatte absichtlich den Besuchstag des neuen Verwalters vermieden. Sie wollte das Haus für sich haben, denn jetzt gingen dort ihre eigenen Gespenster um … Sie tastete sich im vertrauten Dunkel vorwärts. Diese bedrohliche Finsternis zu ihrer Rechten war der hohe Konsolenschrank in der Halle, dieses Gespensterkonklave, auf das ein blasses Sternenlicht herniederfunkelte, die Gruppe verhüllter Sessel, die vertraulich plaudernd unter den Prismen des Kronleuchters im Salon stand. Launische Sonnenstrahlen, die schräg durch die Fensterläden fielen, schienen einzelne Gegenstände mit ihrer Aufmerksamkeit zu beehren, wie Scheinwerfer, die in einer nächtlichen Landschaft nach Orientierungspunkten tasten. Sie stellte sich vor, dass die leblosen Dinge ihnen bei der Suche zu Hilfe kamen, das Licht zu sich winkten und in ihrem sehnsüchtigen Streben nach Wiederbelebung « Hier, hier! »flüsterten. Es gab kein seelisches Empfinden, das man den Wänden und Möbeln eines alten, leeren Hauses nicht andichten konnte …
Aus allem ringsum blickte sie ihre eigene Jugend an, sie hing in verblassten Fetzen herab wie die zerschlissenen Seidenvorhänge – ihre Jugend, schon so weit weg und verblichen, obwohl sie erst achtundzwanzig war! Als sie in der Bibliothek stand, dachte sie an ihre erste Begegnung mit Vance Weston – wie sie bei einem ihrer flüchtigen Besuche hereingeschlendert kam und verwundert einen unbekannten Jungen auf Elinor Lorburns Stuhl sitzen sah, das wirre Haar aus der grübelnden Stirn gestrichen und die Augen auf ein Buch gerichtet. Als sie näher trat, hob er den Blick, nicht überrascht oder verlegen, sondern in tiefer Innenschau, wie sie es für alle Zeit in Erinnerung behalten sollte, und fragte wissbegierig:«Wer hat das geschrieben?»Das sah Vance ähnlich! So war es immer mit ihm. Keine langen Einleitungen, stets schoss er geradewegs aufs Wesentliche zu, ob es nun um den Verfasser von«Kubla Khan»ging oder um das verzweifelte Verlangen, sie zu küssen … Sie schloss für einen Moment die Augen und hörte ihn rufen:«Du verstehst nicht – ich will dich küssen!»Er dachte, sie verstand ihn nicht – umso besser
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