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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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    In jenen fernen Tagen war sie, trotz ihres mütterlichen Gebarens ihm gegenüber, ebenso jung und unerfahren gewesen wie er. Sie wusste einiges über Kunst und Literatur, aber fast nichts über das Leben, obwohl sie glaubte, es glänzend zu meistern. Sie war vertraut mit finanziellen«Notlösungen», mit den Ausflüchten und charmanten Täuschungsmanövern von Menschen, die sich mit Ach und Krach durchbrachten, die blufften, borgten, Gläubigern auswichen, Berühmtheiten bewirteten und zugleich den Milchmann und den Fleischer nicht bezahlen konnten – all diese Tricks hatten ihr zu altkluger Sachkundigkeit verholfen, die sie fälschlich für Erfahrung hielt. Außerdem hatten sie ihre naturgegebene Begeisterung für Redlichkeit und Fairness geweckt, gewiss ein Erbe der alten puritanischen Lorburns, die in Eaglewood an den getäfelten Wänden hingen. Gleichzeitig aber brannte in ihr ein ebenso wildes Verlangen nach dem Leben, nach der Schönheit der sichtbaren Welt, nach ihren Sonnenaufgängen und Mondgeburten und all den Herrlichkeiten, mit denen der Mensch in seinem Bemühen sie ausgeschmückt hatte. Niemals hat ein Mädchen das Abenteuer des Lebens mehr geliebt und war weniger dafür gerüstet als die Halo Spear, die an jenem Nachmittag Vance Weston begegnete.
    Und die Liebe zwischen Mann und Frau? Ja, auch dafür war sie bereit gewesen, nur schien sie mit Schwierigkeiten verbunden. Differenziertheit lag ihrem Wesen nicht, sie wollte alle Kräfte gleichermaßen herausgefordert wissen, sie musste mit Augen, Ohren, Seele und Phantasie lieben, musste fühlen, wie sich Sinne und Gedanken gegenseitig befruchteten. Und entweder waren die jungen Männer eine Labsal für die Augen, aber wie ein kalter Guss für die Phantasie, oder ihre ansprechenden Geistesgaben waren unangemessen einquartiert. Sie brauchte einen Gefährten auf den flammenden Mauern, und New York hatte bisher niemanden für sie aufgetrieben.
    Am ehesten kam noch Lewis Tarrant infrage. Er war angenehm anzusehen; sie mochte es, wenn er in seiner ganzen Größe lässig herumstand, mochte das scharfe, schmale, zartknochige Gesicht, und sie war beeindruckt von seiner kritischen, kühlen Zurückhaltung, die er nur in ihrer Gegenwart aufgab. Ihre Flatterhaftigkeit suchte in ihm einen Halt. Er hegte eine echte Liebe zu Büchern, ein abgeklärtes, gepflegtes Interesse für Kunst, und sein Geist war wie ein kühles, mondhelles Spiegelbild des ihren. Fast liebte sie ihn – aber eben nur fast. Und gerade, als sie eingesehen hatte, dass er niemals mit ihr auf den Mauern wandeln würde, entdeckte sie, dass ihre Familie in der Gewissheit der bevorstehenden Heirat insgeheim Darlehen von ihm angenommen hatte – dazu kam noch der Schock, dass es Lewis gewesen war, der die verschwundenen Americana aus The Willows aufgetrieben und rechtzeitig zurückgekauft hatte, bevor es einen Skandal gab …
    Aber was hieß das schon? Hatte sie nicht immer gewusst, wie es um ihre Familie stand, nicht schon seit Langem das Schlimmste von ihrem Bruder vermutet? Warum hatte sie sich nicht von ihnen losgesagt und war, wie heute üblich, ihrer eigenen Wege gegangen? Sie konnte es nicht. Teils aus Stolz, aber mehr noch aus Anhänglichkeit, aus einer Art zärtlicher Dankbarkeit. Schließlich war sie in diesem chaotischen, unbekümmerten Haushalt glücklich gewesen. Die Eltern mit ihrem zigeunerhaften Charme waren immer liebevoll und aufgeschlossen. Alles Geistige, ja sogar alles Seelische war leidenschaftlich gefördert worden, trotz kleiner moralischer Unzulänglichkeiten. Wenn sie die Poesie liebte, wenn sie mehr als andere Mädchen über Geschichte und Kunst wusste, über all die Wunder, die ihren unersättlichen Verstand bevölkerten, so verdankte sie dies dem täglichen Austausch mit Geistesverwandten, den Gedichtabenden am Kamin in Eaglewood, an denen Mrs Spear noch kurz losstürmte, um einen geschädigten Kaufmann zu beschwichtigen, und dann gelassen zum«Garten der Proserpina»oder zu«The Eve of St. Agnes» 101 zurückkehrte; verdankte sie den spartanischen Wanderungen durch Europa, wo sie in billigen italienischen Pensionen hausten oder in Malaga einen ganzen Winter lang von Sonne und Oliven lebten. Doch wo sie auch hingingen, immer gingen sie Hand in Hand mit der Schönheit.
    Solche Eltern in größter Not verlassen? Das war undenkbar für ein Mädchen, das deren romantische Aufgeschlossenheit ebenso sehr liebte, wie es gegen ihre unheilbare Unehrlichkeit wütete. Lewis Tarrant

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