Ein altes Haus am Hudson River
sagte sie.« Er verhungert, und dazu hat er noch diese arme, kleine, kranke Frau. Wie kann ich Lewis dazu bringen, ihn aus dem Vertrag zu entlassen? Vance’ einzige Hoffnung ist ein Vorschuss von Lambart auf sein ungeschriebenes Buch, sodass er weggehen und in Ruhe arbeiten kann, ohne diese furchtbaren Geldsorgen. Aber mir gelingt es einfach nicht, dass Lewis darüber so denkt wie ich …»
Frenside betrachtete schweigend seine Pfeife.«Schreibt Tarrant nicht selbst einen Roman? Worüber?»
Sie erschrak ein wenig.«Oh, ich weiß nicht. Er ist so verschlossen. Er hat mich nie gebeten, hineinzuschauen, und ich wage nicht, ihm vorzuschlagen …»
Frenside warf ihr einen gewitzten Blick zu.«Wage es, schlage es vor, bestehe darauf. Er soll dir zeigen, was er geschrieben hat. Sag ihm, dass es viel besser ist als Westons Zeug. Wenn er sich das einreden lässt – und das müsstest du eigentlich fertigbringen –, hört er vielleicht auf, sich wegen Weston Gedanken zu machen.»
Sie schwieg, während Frenside aufstand, um zu gehen.« Schau, mein Kind, er soll dir sein Buch vorlesen, und dann musst du versuchen, es für ein Meisterwerk zu halten. Vielleicht ist es ja eins.»Ihr fiel keine witzige Antwort ein, sosehr sie sich auch bemühte. Hilflos und betäubt saß sie da, während ihr alter Freund seine Pfeife leerte, einsteckte und nach dem Stock griff. Erst als er an der Tür war, schrak sie hoch und stieß mit einem kleinen Schluchzer hervor:«Alle Hilfe, die ich ihm geben wollte, hat ihm stattdessen Schaden zugefügt. O Frenny, wie soll ich das nur aushalten?»Frenside humpelte zu ihr zurück und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. Dann nahm er die Brille ab und sah ihr tief in die Augen.«Tapfer», sagte er und wandte sich zum Gehen.
All das war vor drei Monaten geschehen, und jetzt war sie froh, dass sie Frenside nicht mehr gesagt und er erraten hatte, was ungesagt geblieben war. Der Gedanke an diesen Funken Verständnis, der in einem anderen Geist brannte wie ein kleines Licht in einem abgelegenen Haus, machte ihre Welt weniger einsam. Doch das war die einzige Hilfe, die er ihr zu geben vermochte. Soweit sie es fertigbrachte, folgte sie seinem Rat bezüglich Tarrant. Aber obwohl sie Vance nie mehr erwähnte und sich ihrem Mann gegenüber verhielt, als habe jene üble Szene zwischen ihnen nie stattgefunden, war es ihr unmöglich, ihn nach seiner Arbeit zu fragen. Wenn sie es versuchte, bekam sie eine trockene Kehle, und jeder Satz, den sie sich ausdachte, klang falsch und hohl. Eine Ahnung sagte ihr, dass sein Roman wahrscheinlich dilettantisch war und sie in diesem Fall ihre wirkliche Meinung nicht verhehlen könnte. Tagelang überlegte sie, wie sie das Thema anschneiden, wie sie seinem überempfindlichen Bedürfnis nach Lob schmeicheln konnte, ohne ihn später womöglich zu verletzen, aber sie fand keine Lösung.«Ich weiß, dass er keinen guten Roman schreiben kann, und wenn er schlecht ist, wird er sofort merken, dass ich ihn schlecht finde … Er braucht ein Publikum wie Jet Pulsifer …»Sie lächelte ein wenig bei der Vorstellung, wie diese beiden in ihrer unersättlichen Eitelkeit sich gegenseitig mit Lob überhäuften, doch selbst jetzt noch kränkte sie der Gedanke, dass der Mann, den sie gewählt hatte, in Wirklichkeit vielleicht für Mrs Pulsifer geschaffen war …
42
Draußen vor ihrem Häuschen, unmittelbar vor dem Fenster und quer über die ganze Scheibe, reckte sich der Zweig eines Apfelbaumes. Lange hatte Vance dort gesessen und in jener körperlichen und geistigen Blindheit, die ihn in letzter Zeit so oft befiel, weder ihn noch sonst etwas wahrgenommen, und jetzt, im üppigen Herbstsonnenlicht, hing da plötzlich dieser Zweig mitten in seinem Blickfeld.
Es war ein krummer, unansehnlicher Ast an einem vernachlässigten Baum, aber so mit Leben beladen, so voller prächtiger Früchte, dass er aussah wie ein mit Rubinen besetztes totes Stück Holz. Der Himmel dahinter war von tiefstem herbstlichem Blau, ein Himmel zum Anfassen. Das verschrumpelte rostrote Laub hob sich vor ihm ab wie vergoldete Bronze, jede Frucht war aus hartem, kostbarem Material geschnitzt. Es hätte der«goldene Zweig» 102 aus einem der Bücher sein können, die er mitgenommen hatte, als er und Laura Lou aus New York fortzogen.
Was auch immer Vance im praktischen Leben widerfahren mochte, jener unübersichtlichen Welt, in der man Rechnungen bezahlen, Lebensmittel kaufen und kranke oder hilflose Menschen versorgen
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