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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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schuldig. Er hatte den zerknüllten Liebesbrief, den er in den ersten Tagen in Paul’s Landing vom Boden ihres Zimmers aufgehoben hatte, nie vergessen. Jetzt ging sein Tagesausflug zu Ende, und durch die Nacht singend und pfeifend bog er in den Feldweg ein …

    Er klopfte an die Haustür, aber nichts regte sich. Er drehte am Knauf, und die Tür ging auf. Wie oft hatte er Laura Lou gesagt, sie solle in seiner Abwesenheit zusperren! Wirklich, diese Sorglosigkeit … Der Raum war stockdunkel und kalt. Er stolperte über etwas und fiel auf die Knie.«Laura Lou – Laura Lou!», schrie er zu Tode erschrocken.
    Im Schein seiner elektrischen Taschenlampe sah er sie vor der Schwelle liegen, völlig reglos, das Gesicht aschfahl unter dem hellblonden Haar. Zunächst glaubte er in seinem Schrecken an einen Unfall, ein Verbrechen, doch als er sich über sie beugte und ihren Namen bald flüsterte, bald schrie und ihre eiskalten Hände in den seinen rieb, hoben sich ihre Lider, und sie blickte ihn mit dem erleichterten Blick eines müden Kindes an.
    « Laura Lou! Liebling! Was ist los?»
    « Trag mich ins Bett, Vanny. Dann geht es mir wieder gut.»Sie klang so friedlich, dass er sich etwas beruhigte.
    Als er sie hochhob, sank ihr Kopf auf seine Schulter. Im Dunkeln stolperte er durchs Zimmer, tastete sich zum Bett vor und legte sie darauf. Dann suchte er ein Streichholz und zündete die Lampe an. Seine Hände zitterten dermaßen, dass er sie kaum tragen konnte. Er hielt das Licht übers Bett und erblickte auf dem Boden daneben eine Schüssel voll Blut und einen Haufen Lumpen, ähnlich denen, die sie in den Küchenherd gestopft hatte.
    « Laura Lou – hast du einen Blutsturz gehabt?»
    Wieder flatterten ihre Lider.«Seit dem Tag, als ich mich erkältet habe …»
    « Es ist nicht der erste?»
    Ihre Lippen formten ein unhörbares«Mach dir keine Sorgen».
    « Aber Kind, Kind – wieso hast du mir das verheimlicht? Warum hast du nicht den Arzt geholt, um Himmels willen?»
    Die alte Panik erfasste ihren Blick, und sie griff mit ihren schwachen Fingern nach seinem Ärmel.«Nein, nein, nein …»Verstört richtete sie sich auf, die Augen weit aufgerissen vor Angst, wie eine Leiche, die sich aus dem Grab erhebt.«Niemals, Vanny, niemals! Du musst es mir versprechen … Sie würden mich von dir wegbringen an einen fremden Ort mit Krankenschwestern und irgendwelchen Leuten, wo ich dich nie mehr wiedersehen würde … Ich geh nicht weg, ich geh nicht … Aber wenn der Doktor kommt, schickt er mich fort … und ich möchte lieber hier sterben … versprich es mir …»
    « Natürlich verspreche ich es. Aber du wirst nicht sterben, bestimmt nicht, das verspreche ich dir!»Er hielt sie fest, brannte von ihrem Fieber und bemühte sich, seine Wärme und Kraft in ihren armen, zitternden Körper strömen zu lassen; nach einer Weile sank ihr Kopf zurück aufs Kissen, und ihre Lider schlossen sich über den besänftigten Augen.

45
    Der Arzt sagte, Laura Lou dürfe bleiben, wo sie sei. Offenbar hielt er den Fall nicht für so ernst, schloss Vance daraus. Sie müsse aufgepäppelt, gewärmt und umsorgt werden. Ob Vance eine Frau als Hilfe holen könne? Oh, ja. Und sterilisiertes Eis? Und frische Milch?
    Laura Lou lag lächelnd da, glückselig, einen kleinen rosa Fleck in der Höhlung ihrer Wangen. Sie hatte das Glas Milch ausgetrunken, das Vance ihr gebracht hatte, und die milde Sonne überflutete ihr Bett. Es war ein Tag wie im April, und die Erde dampfte, weil es plötzlich taute.
    Vance folgte dem Arzt hinaus auf die Veranda, und die beiden Männer standen schweigend da. Auf dem Weg dorthin hatte Vance dem Arzt den Betrag in die Hand gedrückt, den er ihm schuldete, und der Arzt, der ein gutmütiger Mensch war und zweifelsohne sah, wie die Dinge lagen, hatte gesagt:«Ach, wissen Sie, das eilt nicht …»Danach standen sie da und schauten eine Zeit lang auf den schlammverspritzten Ford, der sich vorher durch den aufgetauten Morast des Feldwegs gekämpft hatte.
    « Kommen Sie bald wieder?», fragte Vance und überlegte, wie er dem Arzt verständlich machen konnte, dass es ihm keine Probleme mehr bereite, ihn für seine Besuche zu bezahlen.
    « Natürlich», sagte der Arzt; er war jung und nicht sehr wortgewandt. Er stapfte die Holztreppe hinunter und fügte hinzu:« Nicht, dass es da noch viel zu tun gäbe.»
    « Sie meinen, sie erholt sich bald wieder, mit diesem Stärkungsmittel? »Vance hielt das Rezept in der Hand.
    Der Arzt blickte zu seinem

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