Ein altes Haus am Hudson River
weitere Kissen und dazwischen bergeweise Illustrierte und Zeitungen. In einer Ecke stand ein hohes irdenes Gefäß mit Zweigen von blühenden Pflaumen und Felsenbirnen, in einer anderen eine Staffelei mit einer Kohleskizze, und überall fanden sich Aschereste und kleine Häufchen von Zigarren- und Zigarettenstummeln.
Das niedrige alte Haus aus grauem Stein thronte auf dem Berg so hoch über Paul’s Landing, dass den auf der Veranda Sitzenden der deprimierende Blick auf die Stadt und die weiter unten liegende Zementfabrik erspart blieb; sie sahen jenseits des steil abfallenden Waldhangs mit seinen vielen Grüntönen nur den grauen Bogen des Hudson und die Felsen am anderen Ufer.
Der Blick von Eaglewood war berühmt – aber, so überlegte Héloïse Spear, außer ihr nahm ihn keiner seiner Bewohner zur Kenntnis. Ihre Mutter hatte ihn wahrscheinlich vor Jahren in früher, glühender Jugend eine Zeit lang wahrgenommen, doch dann war er in einem Nebel aus allerlei literarischen, humanitären und häuslichen Beschäftigungen verloren gegangen und tauchte nur auf, wenn Gäste zum ersten Mal auf die Terrasse geführt wurden.«Ach, unser Blick – ja!», murmelte Mrs Spear dann immer und schloss die schönen Augen, als wollte sie sich mit dem Unaussprechlichen einschließen, fern von aufdringlichen Lobesworten. Und ihre Gäste blieben stumm, zu beeindruckt von ihrer Miene, um die erwarteten Superlative zu finden.
Mr Spear hingegen, das wusste seine Tochter, hatte diesen Blick überhaupt nie wahrgenommen, dazu war er zu kurzsichtig, aber er hatte in Poesie und Prosa davon gelesen und äußerte sich lebhaft und bewegt dazu; er verstand es, die staunenden Gäste zu beeindrucken, indem er sich eine Zigarette anzündete und bescheiden abwehrend, doch in Besitzerpose sagte:«Die Dichter haben uns besungen, wie Sie wissen. Erinnern Sie sich an Bryants ‹Eyrie›? Ja – das ist der Blick von Eaglewood. Er hat hier immer den Urgroßvater meiner Frau besucht. Und Washington Irving in seinem Skizzenbuch. Und Whitman, vermutet man allgemein …»An dieser Stelle pflegte Mrs Spear die Augen aufzuschlagen und einzuwerfen:«Sie wussten nicht, dass mein Mann Whitman gekannt hat? Ich schimpfe ihn immer, weil er keines ihrer wunderbaren Gespräche aufgezeichnet hat …»
« Na ja, Whitman war schon sehr alt, als ich ihn kennenlernte – er saß gelähmt in Camden. Zu meiner Zeit ist er nicht mehr hierhergekommen. Aber aus einer bestimmten Äußerung habe ich geschlossen, dass Eaglewood ganz sicher … Ja, irgendwann muss ich das wirklich mal notieren …»
Mr Spears Vergangenheit war voll von namenlosen, nebelhaften Denkwürdigkeiten, die er nicht notiert hatte. Schlank, dunkelhaarig und rüstig, verkörperte er mit seinen grauen Locken und dem geschickt gefärbten Schnurrbart den Typ des geschäftigen Träumers, der ständig auf die Uhr sah, ungeduldig nach Stundenplänen und Kalendern rief (zwei Gegenstände, die sich im Hause Spear niemals finden ließen), rechnete, Verabredungen traf, überlegte, ob sich nicht dies oder das noch dazwischenquetschen ließ, sich fragte, ob man das nicht«organisieren »konnte, und dann am Ende des Tages, wenn er sich seine Verdauungszigarre anzündete, stöhnte:«Hol’s der Teufel, als ich heute Morgen aufstand, hatte ich jede Menge recht wichtige Dinge im Kopf, die ich hätte erledigen müssen, aber ich Narr hab vergessen, sie zu notieren.»Von einem derart beschäftigten Mann wie Halos Vater konnte man nicht erwarten, dass er jemals Zeit für einen Sonnenuntergang hatte.
Héloïse’ Bruder Lorry (eigentlich natürlich Lorburn), der in einem Liegestuhl fläzte, den hübschen Kopf geringschätzig zurückgeworfen, die Füße auf das Verandageländer gelegt, Lorry, der Narr, hätte die Aussicht sehen können, wenn er gewollt hätte, doch er wollte nicht, aus purer Halsstarrigkeit und Provokation – und das war das Schlimmste, fand seine Schwester.« Ach, um Himmels willen, Halo, komm mir nicht schon wieder mit deinem Blick, ja, sei so gut. Ob ich dir wohl jemals deinen guten Geschmack austreiben kann? Die Welt erstickt schon an einem Übermaß Landschaft, an einer Schönheitsorgie. Wenn Vater ein paar von diesen völlig überflüssigen Bäumen fällen ließe, damit wir was von dem Kamin der Zementfabrik mitbekämen … Es ist natürlich nur ein armseliger, kleiner Kamin, aber er hat den entscheidenden Vorteil, hässlich zu sein. Je nach Lichteinfall ist er fast so hässlich wie The Willows oder
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