Ein altes Haus am Hudson River
sagte:«Bäume.»
« Ist das der Titel?»
« Ja. Das war das Erste, was mir auffiel, als ich hierher kam – die Bäume. Sie sind anders als die unseren, dichter, es sind mehr … Ich weiß nicht …»
« Ja. Also …?»
Er begann:«Geheim und fern und unerforschlich wie die Seele …»
Sie saß regungslos da, das Kinn in die Hand gestützt. Ihre Zigarette ging aus und fiel auf das feuchte Moos am Ufer.«Unerforschlich wie die Seele», murmelte sie.«Ja.»Sie nickte kurz, sprach aber nicht weiter, und mit der Zeit vergaß er ihre Anwesenheit und schien mit seiner Bilderwelt allein zu sein; dann wieder war sie ihm so nahe, dass ihr schmales, nachdenkliches, ein wenig gesenktes Gesicht sich zwischen seinen Blick und das Gesagte zu schieben schien, und ihn entmutigte der Gedanke, dass dieses Gesicht, wenn er jetzt gleich fertig war, immer noch da sein würde, unausweichlich, unbestechlich wie der Tod am Ende des Lebens. Er stieß die letzten Worte des Gedichts überstürzt hervor, und es herrschte langes Schweigen, ein endloses Schweigen, wie dem Dichter schien, bis seine Zuhörerin sprach.
« Du trägst zu schnell vor, du verschluckst die Hälfte der Worte. Ach, warum bringt man das den Leuten hierzulande nicht bei? Aber es hat da einige schöne Stellen …»Sie schwieg und schien sich ein Urteil zu bilden.«Das mit der Stadt aus Laub … Ich wünsche mir, dass du mir das aufschreibst, ja? Dann kann ich es selbst nachlesen. Wenn du Papier dabeihast, schreib es jetzt gleich auf.»
Natürlich hatte Vance Papier dabei und auch den Füller, von dem er sich nie trennte. Er zog einen Zettel heraus, strich ihn auf einem Stein glatt und begann zu schreiben. Es kränkte ihn, dass sie seinen Vortrag schlecht fand, und seine Hand zitterte so sehr, dass er fürchtete, sie werde das Gedicht beim Lesen ebenso wenig verstehen wie beim Rezitieren. Schließlich reichte er ihr das Blatt, und sie hielt es sich für einen weiteren schrecklichen Moment der Stille vor die kurzsichtigen Augen.
« Ja, es hat einige schöne Stellen. Dieses Bild von der Stadt aus Laub … und der Stadt der Seele, erbaut aus dem Murmeln und Rascheln unserer Eindrücke, Gefühle und Instinkte …»Sie legte das Blatt hin, hob den Kopf und kniff die Augen nachdenklich zusammen.«Weißt du übrigens, woraus der erste Tempel von Delphi errichtet wurde?»Sie hielt inne, lächelnd in Erwartung seiner Freude.«Aus Vogelfedern und Honig. Singen und Summen! Süße und Helligkeit! Ist das nicht zaubrisch?»
Vance starrte sie an, fasziniert, aber verwirrt. Hatte er richtig verstanden? Vogelfedern und Honig? Das Herz klopfte ihm angesichts der seltsamen, verstörenden Schönheit dieser Metapher – denn natürlich war es eine Metapher. Doch was bedeutete sie? In seiner Erregung über diesen Ausdruck, in seiner Verwirrung über die Frage kam er sich flegelhaft und stumpfsinnig vor, weil er nicht antwortete. Aber ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.«Die ‹Erste Kirche Christi› in Delphi? Christian Science, meinen Sie? 28 Ich fürchte, ich verstehe nicht recht», stammelte er schließlich.
Sie starrte ihn an, als verstünde auch sie nicht, dann lachte sie leise.«Nein, nicht ganz so jung. Der Sage nach war der erste Tempel in Delphi – ich meine das griechische Delphi, das berühmte Apollon-Heiligtum mit dem Orakel –, also, der Sage nach war der erste Tempel nur eine Hütte aus Federn und Honig, in dieser unbesiedelten Gegend von Bienen und Vögeln erbaut, die schon wussten, dass dort ein Gott wohnte, lange bevor der Mensch kam und ihn entdeckte.»Sie brach ab und faltete das Papier zusammen.«Noch ein Thema für ein Gedicht … Aber dies hier», fuhr sie fort, erhob sich und blickte Vance aufmunternd an,«gefällt mir außerordentlich. Darf ich es behalten? Ich habe einen guten Freund, der sich wirklich für Gedichte interessiert, dem möchte ich es zeigen. Willst du mir nicht noch eins aufsagen? Bitte. Es ist herrlich, hier zu liegen, schönen Worten zu lauschen, und das alles zusammen mit den Geräuschen des Wassers und des Laubes … Nur, Vance», fügte sie hinzu und fixierte ihn plötzlich mit einem durchdringenden, humorvollen Blick,«das Wort ‹Instinkt› würde ich den Leuten überlassen, die Klappentexte für Buchumschläge schreiben, und ‹Morgenröte› und ‹Gebete› reimt sich nicht – noch nicht …»
Es folgte ein Schweigen. Des Mädchens Lob und Verständnis – vor allem ihr Verständnis – hatten Vance so hoch über sein
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