Ein altes Haus am Hudson River
Augen und blickte sich im Zimmer um. Mildes grünes Licht fiel kühlend durch die Blätter der alten Trompetenwinde vor dem Fenster. Ein paar Sekunden lang war die Gegenwart überflutet von der Erinnerung an den Sonnenaufgang und das genüssliche Stillen des Hungers am Teich; aber sie wusste, dass tief in ihrer Erinnerung etwas Unangenehmes lauerte – so war es ihrer Erfahrung nach fast immer, als müsse jede Freude im Leben mit Ärger erkauft werden.
« Dieser Junge hat einen Blick – ich hatte schon recht», dachte sie, und dann sofort:«Ach, das Auto!»Denn bei dem Versuch, sich den jungen Weston in Erinnerung zu rufen, war ihr eingefallen, dass der Wagen auf dem Heimweg eine gute Meile oberhalb von Eaglewood plötzlich stehen geblieben war und sie ihn nach langem Kampf (Vance stand hilflos daneben und schaute sichtlich ahnungslos zu) am Straßenrand hatte abstellen müssen. Nachdem sie ihrem Gefährten beschrieben hatte, wie er zu Fuß heimkam, trennten sie sich am Tor von Eaglewood. Sie hatte vorgehabt, nur ein paar Stunden zu schlafen und dann früh hinauszuschlüpfen, den«Mann für alles»ausfindig zu machen, bevor das ganze Haus wach wurde, und ihn zu bitten, den pflichtvergessenen Wagen irgendwie heimzuschaffen. Doch kaum hatte sie sich ausgezogen und aufs Bett geworfen, versank sie in den bodenlosen Schlaf der Jugend, und jetzt war es fast Lunchzeit, alle waren unten, man hatte das Fehlen des Autos bestimmt schon entdeckt! Da die Sache zwischen ihr und Lewis Tarrant noch nicht entschieden war, brauchte er nicht unbedingt zu erfahren, dass sie ohne ihn draußen gewesen war, um den Sonnenaufgang zu sehen – vor allem, weil er niemals glauben würde, dass sie ohne Begleitung zum Thundertop hinaufgefahren war.
Ach, wie sie die Mädchen in ihrem Alter beneidete, die eigene Autos hatten, ihr eigenes Leben führten, zum Teil sogar ein eigenes Apartment in New York bewohnten! Reichtum bedeutete ihr nicht mehr als die Möglichkeit, unabhängig zu sein, und die Vorstellung, ihn durch Heirat zu erlangen und dann eiskalt für eigene Zwecke zu nutzen, fand sie ebenso abstoßend wie alles andere in ihrem gegenwärtigen Leben. Dennoch sehnte sie sich nach Freiheit und sah keinen anderen Weg dorthin. Wenn ihrer Lebensgier wenigstens ein schöpferisches Talent entsprochen hätte! Sie konnte ein wenig malen, ein wenig schreiben, aber ihre wahre Begabung lag darin (und das wusste sie), dass sie die Begabung anderer erkannte. Selbst wenn ihr mageres Talent von Disziplin und Fleiß gestützt worden wäre, hätte sie damit kaum ihren Lebensunterhalt verdienen können. Sie wusste sich selbst einzuschätzen – was kam für sie anderes infrage als die Ehe?« Nun ja», dachte sie zum hundertsten Mal,«etwas könnte sich ergeben … », was hieß, wie sie sehr wohl wusste, dass der alte Tom Lorburn, der Vetter ihrer Mutter, plötzlich tot umfallen und ihr The Willows vererben könnte, dazu ausreichend Geld, um das Haus und Paul’s Landing für immer weit hinter sich zu lassen.
Sie hörte das aufgeregte Klopfen ihrer Mutter, und Mrs Spear kam herein, matt, bekümmert und von blasser Schönheit.
« Ach, Halo – schläfst du noch? Es tut mir leid, dass ich dich störe, Liebling, aber es ist schon nach elf», («ich weiß, ich weiß», murmelte Héloïse, immer ungehalten, wenn es um Offensichtliches ging),«und es ist etwas sehr Unangenehmes passiert. Das Auto ist verschwunden. Jacob meint, es müsse jemand nachts in die Garage eingedrungen sein. Die Köchin sagt, sie habe gestern Abend einen grässlich aussehenden Mann herumlungern sehen; aber der Haken daran ist, dass das Garagenschloss nicht aufgebrochen wurde – allerdings ist es selten zugesperrt, wie ich Vater schon sagte. Vater meint, es war wieder Lorry; er hat vor Lewis eine fürchterliche Szene gemacht … Weniger weil Lorry die ganze Nacht draußen war, Vater glaubt vielmehr, er hat das Auto verkauft. Und wenn das stimmt, bekommen wir von dem Geld niemals auch nur einen Penny zu Gesicht», schloss Mrs Spear verwirrt und bemüht, die Gründe für ihren Kummer zu sortieren, von denen die Sorge um das Geld eindeutig die größte war.
Héloïse setzte sich im Bett auf und starrte in das besorgte Gesicht ihrer Mutter.«Selbst jetzt hat sie schöne Augen», dachte sie,«sie verdreht sie nicht so hässlich wie ich.»Dann zwang sie sich in die Wirklichkeit zurück.«Was für ein Unsinn – niemand hat das Auto gestohlen», sagte sie.
« Dann war es tatsächlich Lorry?
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