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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Alltags-Ich erhoben, als seien ihm durch ihre Berührung Flügel gewachsen. Und nun hatte ihre Kritik, der Hinweis auf andere, ähnlich geartete Lösungen und die Andeutung eines Abgrunds von Irrtümern, in den er jeden Moment unversehens stürzen konnte, ihn jählings heruntergeholt wie einen abgeschossenen Vogel. Er verstand kaum, was sie meinte, begriff nicht, was es am Englisch von Klappentextschreibern auszusetzen gab – genau darin gedachte auch er sich eines Tages auszuzeichnen –, und noch weniger verstand er, dass sie einen Reim infrage stellte, der in seinen Ohren so selbstverständlich klang. Launisch und tyrannisch, wie sie offenbar war – und wahrscheinlich stocktaub –, hätte sie genauso gut sagen können (und hätte es, daraufhin befragt, wahrscheinlich auch gesagt), dass sich«Höhen»und« Seen»nicht reimte! Alles, was Stoff und Mittel seiner Kunst betraf, interessierte ihn leidenschaftlich, und zu einem anderen Zeitpunkt hätte er eine Auseinandersetzung dieser Art gern geführt, aber in dieser Stunde schöpferischen Entzückens, in der seine Phantasie noch getränkt war von den Wundern dieses Abenteuers und das Lob des lauschenden Mädchens in seinem Kopf bereits ein Zittern und Beben aus neuen Rhythmen und Bildern ausgelöst hatte, bedeutete es einen Sturz aus tödlicher Höhe, wenn solches Lob von kleinlichen, herablassenden Kommentaren eingeschränkt wurde, die umso verstörender wirkten, als er keine Antwort darauf wusste.
    « Das reimt sich nicht?», stammelte er und erbleichte unter diesem Schlag. Aber Miss Spear war schon aufgesprungen und blickte auf ihn nieder mit dem mutwilligen, aber unnahbaren Strahlen eines Waldgeistes.
    « Ach, was spielt das für eine Rolle? Ich weiß gar nicht, warum ich davon gesprochen habe.»Sie sah ihn unverwandt an, und das besorgte Suchen ihrer kurzsichtigen Augen, die in den seinen lesen wollten, verlieh ihrem Gesicht plötzlich wieder einen menschlichen Zug und brachte sie ihm näher.«Schuld ist nur meine unheilbare Sucht, alles auseinanderzunehmen. Die Lilie vergolden – welcher Idiot hat geschrieben, das sei der Mühe nicht wert? 29 … Aber ich hätte nichts gesagt, Vance, wenn ich nicht glaubte, du wärst begabt … wirklich begabt … hättest die ‹grandiose Unbeholfenheit, die das Talent in seine Schranken weist›, wie George Frenside meint.»
    Sein Herz wollte bersten. Sie verstand es, die Wunden zu verbinden, die sie geschlagen hatte! ‹Grandiose Unbeholfenheit. › Er erbebte unter dem Hieb dieser Formulierung. Wer wohl so sprach oder schrieb? War es jemand, den er kennenlernen oder dessen Bücher er lesen konnte – vielleicht in der Bibliothek von The Willows?«Von wem sprechen Sie?», fragte er atemlos.
    « Von dem Mann, der besser als jeder andere mit dir über englische Dichtung sprechen kann.»
    « Oh, kennen Sie ihn? Kann ich ihn sehen? Lebt er noch?»
    Miss Spear, die noch immer auf ihn herabblickte, nickte auf jede Frage.«Es ist der Freund, den ich vorher erwähnt habe. Er ist zurzeit in Eaglewood zu Gast. Er ist Literaturkritiker bei der ‹Stunde›.»Mit schläfrigem Blick und zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die Wirkung dieser Mitteilung.«Irgendwann nehme ich ihn mit, damit er dich kennenlernt – an dem Tag, an dem ich dir die Bibliothek von The Willows zeige», sagte sie.
    Vance hatte noch nie von Frenside oder einer Zeitung namens« Die Stunde»gehört, aber die Selbstverständlichkeit, mit der sie diese Namen aussprach, verlieh beidem sofort Gewicht. Sein Herz klopfte wild, aber nun genügten ihm solche glänzenden Versprechungen nicht mehr. Uptons Andeutungen über Miss Spears Unzuverlässigkeit und Ungreifbarkeit fielen ihm wieder ein, und er erinnerte sich mit neuem Groll an die Stunden des Wartens vor Miss Lorburns Tür. Vielleicht zeigte sich etwas von dieser Ungläubigkeit in seinen Augen, denn Miss Spear fügte in einem ihrer plötzlichen Anflüge von Sanftmut hinzu:«Ich kann jetzt noch nicht sagen, an welchem Tag genau; aber ich gebe bei Upton in der Gärtnerei Bescheid, das verspreche ich. Und jetzt komm, Vance, wir müssen zusammenpacken und losfahren. Der Sonnenaufgang gehört nicht mehr nur uns. Jetzt gehört er der ganzen dummen Welt …»

10
    Als Héloïse Spear gegen Mittag aus dem Schlaf erwachte, in den sie nach dem nächtlichen Ausflug zum Thundertop versunken war, setzte sie sich im Bett auf und dachte:«Was ist passiert?»
    Sie reckte die Arme, schob sich das Haar aus den verschlafenen

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