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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Hat er es dir erzählt?»
    « Gar nichts hat er mir erzählt.»Sie hielt inne, spielte einen Augenblick mit der Versuchung zu schweigen, dann sagte sie:« Das Auto steht eine Meile weiter oben an der Straße Richtung Thundertop. Es hatte eine Panne; ich habe es heute am frühen Morgen dort abstellen müssen.»Der verlockende Gedanke, die volle Wucht des Sturms auf Lorry umzulenken, hatte sich nicht länger gehalten als ein Atemzug zwischen zwei Worten, aber einen alten Bodensatz von Selbstekel in ihr aufgewühlt. Dennoch wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte statt diesem ganzen Theater das Auto sicher unter Dach und Fach gebracht.
    Ihre Mutter blickte sie erstaunt an:«Du, Halo? Du warst mitten in der Nacht mit dem Auto unterwegs?»
    « Ja. Ich habe das Auto genommen. Ich bin zum Thundertop hinaufgefahren, um den Sonnenaufgang zu sehen.»
    « Mit Lewis, Liebling?», fragte Mrs Spear merklich erfreut, doch dann machte sie wieder ein langes Gesicht.«Aber nein, er war ja hier, als Vater den armen Lorry schimpfte, und wenn er bei dir gewesen wäre, hätte er natürlich …»
    « Er war nicht bei mir. Er weiß nichts davon.»
    « Halo!», stöhnte ihre Mutter.«Und das jetzt, wo er gerade erst angekommen ist!»Sie schwieg mit einer Gebärde der Verzweiflung.« Mit wem warst du da oben?»
    Halo glitt aus dem Bett, steckte ihre Füße in die ausgetretenen marokkanischen Pantoffeln und suchte im Anmarsch auf das Bad Schwamm und Handtücher zusammen.«Ach, niemand Besonderer. Nur dieser Junge von den Tracys …»
    Mrs Spear japste vor Verblüffung.«Der Junge von den Tracys? Meinst du etwa Upton?»
    « Natürlich nicht. Wie lächerlich! Ich meine den Cousin aus dem Westen, der zurzeit bei ihnen wohnt – den Jungen, der Typhus gehabt hat. Habe ich dir nicht von ihm erzählt? Er ist ziemlich außergewöhnlich, sehr begabt, glaube ich, und verhungert fast vor Sehnsucht nach Büchern und Menschen, mit denen er reden kann. Ich hatte versprochen, mit ihm einen Nachmittag nach The Willows zu gehen und ihn in der Bibliothek schmökern zu lassen, aber dann habe ich es vollkommen vergessen, und um das wieder gutzumachen, bin ich heute ganz früh rausgeschlüpft und habe ihn zum Thundertop hochgefahren, um den Sonnenaufgang anzusehen. Es war herrlich. Und er hat mir ein paar seiner Gedichte vorgelesen – er will Dichter werden. Ich glaube, in dem steckt etwas, Mutter.»
    Während Mrs Spear zuhörte, wechselte der Ausdruck ihrer schönen Augen von Besorgtheit zu teilnehmender Begeisterung. Wie ihre Tochter sehr wohl wusste, konnte man mit Mrs Spear niemals über Begabung sprechen, ohne in ihr das unwiderstehliche Verlangen zu wecken, diese zu fördern und zu lenken.
    « Aber wie interessant, Liebes! Warum hast du mir nie davon erzählt? Kann ihm George Frenside nicht helfen? Könnte er seine Sachen in der ‹Stunde› veröffentlichen? Ich hoffe, du hast ihn zum Lunch eingeladen?»
    Héloïse lachte. Der Enthusiasmus ihrer Mutter amüsierte sie immer. Wenn sie von einem talentierten jungen Mann in Einladungsreichweite hörte (Talent war für Mrs Spear gleichbedeutend mit Genie), vergaß sie sofort Familie und finanzielle Sorgen, wie drückend diese auch sein mochten, und überlegte angestrengt, was die Köchin für den Lunch zusammenkratzen konnte – denn aufrichtige Wertschätzung guten Essens war eine der Eigenheiten ihres merkwürdig vielschichtigen Wesens, und Berühmtheiten huldigte sie instinktiv mit einer saftigen Mahlzeit.« Wann hast du ihm gesagt, dass er kommen soll – um ein Uhr oder um halb zwei? Susan bekommt bestimmt noch ein Käsesoufflé hin – allerdings ist es schon fast zwölf.»
    « Ja, ich weiß – du musst mich jetzt allein lassen, damit ich noch baden kann. Aber wie hätte ich ihn zum Lunch einladen können? Das wäre unhöflich gewesen, wo er doch bei den Tracys wohnt, die schließlich entfernte Verwandte von uns sind und die wir sicherlich nicht einladen wollen, oder?»
    Mrs Spear schlug bei diesem Wink selbstanklagend die langen, ausdrucksvollen Hände zusammen.«Ach, die armen Tracys! Ja, es sind entfernte Verwandte. Aber nur weil Lorburn Tracy, der ohnehin ein armer Mann und, was die Vaterseite betraf, eine Null und ein Niemand war, die Gärtnerstochter von The Willows zu heiraten beliebte, kann man doch kaum von uns erwarten … oder? Nicht, dass so etwas wirklich eine Rolle spielte. Warum auch? Nur – nun ja, vielleicht sind wir, was die Tracys angeht, snobistisch gewesen, Liebling. Was meinst du?

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