Ein altes Haus am Hudson River
vergessen!», war aus dem Haus gesaust und hatte ihm über die Schulter noch Ratschläge, Anweisungen und ein Lebewohl zugerufen.
Vance nahm kaum Notiz von ihrem Verschwinden. Es war aufregend, fast zu aufregend, sie hier zu haben, und gerade jetzt konnte er nicht noch mehr Aufregung brauchen. Ihn verlangte danach, Zeit und Raum zu vergessen, bis sein ungestümer geistiger Hunger vielleicht nicht gesättigt, aber doch besänftigt war. Schon das Gefühl, dass ihn all diese Bücher umgaben, schweigende Zeugen einer unbekannten, ungeahnten Vergangenheit, beunruhigte ihn fast mehr, als er ertragen konnte. Von allen Seiten wirkte ihre Kraft auf ihn, zog ihn hierhin und dorthin, als befände er sich inmitten eines Magnetfeldes. Es fiel ihm immer schwerer, die Arbeit fortzusetzen, für die er eigentlich gekommen war. Nun, selbst Miss Spear hatte ihr Tun alle paar Minuten unterbrochen, um zu lesen und zu staunen, hatte das eine Buch weggelegt und sich auf ein anderes gestürzt, wie eine gierige Hummel blind für die Ordnungsprinzipien, die sie ihm einschärfte. Dabei waren diese Bände, oder die meisten von ihnen, für sie alte Freunde. Sie hatte die Erschütterung und Überraschung, die Vance erzittern ließen, gewiss schon vor langer Zeit überwunden, wohingegen für ihn fast alle Bücher neu und unbekannt waren und die wenigen vertrauten Namen seinen Hunger noch anstachelten. Wie sollte er sich daran erinnern, aus welchem Regalfach das eine oder andere Buch stammte, sobald es ihm einmal seine goldenen Horizonte eröffnet hatte?
Er versuchte es erst gar nicht. Er besaß schon einen ziemlich ausgeprägten Sinn für Werte und konnte nicht glauben, dass es für ihn oder irgendwen sonst lebenswichtiger und notwendiger sein sollte, die Bücher einer toten Frau abzustauben, als sie zu lesen. Dies war seine Chance, und er würde sie nutzen.
Hätte er nur gewusst wie! Die drückende Last all dieser Weisheit erstickte ihn schier in seiner Ahnungslosigkeit; er kam sich vor wie das Mädchen, von dem ihm Miss Spear einmal erzählt hatte: Es hatte aus Goldgier Rom an den Feind verraten und wurde schließlich von den goldenen Schilden der feindlichen Soldaten schmählich erdrückt. Genauso erdrückten diese Bücher Vance. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den glatten Stamm des Baumes zu erklettern, an dem hoch oben die Früchte hingen!
Er ging in die Ecke, aus der Miss Spear die Bücher geholt hatte, und auf einmal lag seine Hand auf einem abgewetzten Band:«Englische Dramatiker der Shakespeare-Zeit» 31 . Er ließ sich in Miss Lorburns gotischem Lehnstuhl nieder und las:
« Um dies Gesicht sind einstmals tausend Schiffe
In See gestochen, Ilion zu zerstören.» 32
Mein Gott! Wer hatte das geschrieben? Wer konnte so etwas schreiben? Keiner der Großen, die er kannte … Das war ein anderer Ton, das begriff er instinktiv. Wie hieß der Mann? Marlowe … Und natürlich hatte er vor ewigen Zeiten gelebt, zwei-oder dreihundert Jahre bevor Miss Lorburns altes Haus erbaut worden oder das komische, alte, muffige Lesebuch erschienen war – schon damals wurde die englische Sprache in den Händen dieses Marlowe zu einer Blume, einer Flamme … Vance streifte langsam und staunend von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, und weil er nicht genug bekam, schob er das Buch unter seinen Stuhl, wie ein Hund einen Knochen versteckt, und wanderte zurück zu den magischen Regalfächern, um sich mehr zu holen.
« Wenn sie sich regt,
So sprudelt neue Schönheit
Wie Wasser aus dem übervollen Quell
Und überrieselt ihre Lieblichkeit …» 33
Vance ließ den kleinen Band sinken, presste die Hände auf die Augen und ließ die zarte Musik durch sie hindurchsickern. Diese Dichtung hatte eine andere, ganz eigene, ganz neue Qualität – flüchtig wie die scheue Schönheit eines kühlen Frühlingsabends. Beddoes … so hieß er. Noch ein Unbekannter! War er ein Zeitgenosse dieser anderen, Marlowe und Ford 34 , die gelebt hatten, lange bevor The Willows erbaut worden war, vielleicht gar bevor der Hudson seinen Namen erhalten hatte? Oder versuchte er mit seinen erlesenen neuen Tönen lediglich die frühere Musik zu beschwören? Wie sollte sich ein Junge aus Euphoria einen Weg durch diesen grenzenlosen Wald der englischen Dichtkunst bahnen, mal hierhin, mal dorthin gelockt von all den stürmisch beschwingten Vögeln, die ihren Gesang auf ihn herniederperlen ließen?
Während er so dastand, suchend und starrend, fiel sein Blick in der Unordnung und Verwirrung der
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