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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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kannte. Sie hingegen sprachen über alles andere , und zwar ohne sich damit zu brüsten, ohne das leiseste Bewusstsein, dass ihr Blickfeld weiter war als das anderer Leute – sprachen natürlich, unbefangen, so wie seine Mutter über Elektroherde und sein Vater über Immobilien, wie Mrs Tracy über Laura Lous Schulpicknick und Uptons Arbeit in der Gärtnerei. Er kam zu dem Schluss, dass die Spears und ihre Freunde kein elitäres Häufchen waren, das vor allen anderen mit seinen überlegenen Kenntnissen prahlte, sondern dass sie einer eigenen Klasse angehörten, einer Gesellschaft, einem Menschenschlag, der ganz natürlich diese freiere Luft atmete, der das Vorrecht besaß, sich frei in Zeit und Raum zu bewegen, und an all das so sehr gewöhnt war, dass er dieselbe Fähigkeit bei anderen als selbstverständlich voraussetzte – sogar bei einem Jungen wie Vance Weston.
    Nun ja, es gab keinen Grund, warum ein Junge wie Vance Weston nicht eines Tages auch solche Fähigkeiten erwerben sollte. Er war in dem Glauben erzogen worden, dass es nichts gab, was ein Sohn Euphorias, der Wiege aller Überlegenheit, nicht erreichen konnte. Nur – wie? Ihm schien die Kluft unüberwindlich. Wenn er in dieser Bibliothek allein hätte sein dürfen, vielleicht für ein halbes Jahr … Doch selbst dann hätte er eine Art Anleitung gebraucht. Die Vergangenheit war zu gewaltig, zu kompliziert, zu fern, um ihre Geheimnisse leicht preiszugeben.
    Noch einmal aufs College? College bedeutete für ihn Sport und wieder Sport, Geheimbünde, Klassenprügeleien und Geklüngel, Studierzeiten mit mechanischem Büffeln und oberflächliches, sinnloses Herunterleiern von Formeln – seine Schulbücher kannten für alles eine Formel! Aber das hatte nichts gemein mit alldem hier …
    Überhaupt war der Gedanke an ein College Zeitverschwendung. Selbst wenn er bereit gewesen wäre, sich noch einmal dem alten Trott zu unterwerfen, hätte er nicht über die Mittel für eine Fortführung seiner Ausbildung verfügt, und seinen Vater konnte er nicht bitten, zum zweiten Mal die ganzen Kosten zu übernehmen. Mr Weston betrachtete ihn, wie Vance wusste, als Investition, die sich allmählich bezahlt machen sollte. Dass der Junge nach seiner Krankheit einen Urlaub brauchte, hatte der Vater eingesehen, und da er ein Mann war, der sich besonders dann nobel gab, wenn sein Tun für andere sichtbar war, hatte er Vance nicht nur Hin- und Rückfahrt nach New York und die Unterkunft bei den Tracys bezahlt, sondern noch monatlich hundert Dollar bewilligt, für die Dauer von vier Monaten. Die Hälfte der Summe hatte Vance vor der Abreise erhalten, zusammen mit der Ermahnung, vorsichtig zu sein und sich nicht zu blamieren, und diese Geste seines Vaters, von der bald die ganze Mapledale Avenue wusste, wurde für sehr großzügig und eines Lorin Weston würdig erachtet.
    Doch gleichzeitig gab man Vance zu verstehen, dass er sich nach seiner Sommerpause«bewähren»müsse. Sein Vater, der sich widerstrebend mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass er nicht Immobilienmakler, sondern Journalist werden wollte, erreichte beim«Offenen Wort», dass man ihm dort eine Stelle freihielt, und prahlte im Club, was es für eine Plage sei, einen Literaten in der Familie zu haben.«Mit dem Problem müsst ihr euch nicht rumschlagen, was? Tja, in Mrs Westons Familie hat man es eben seit Urzeiten mit der Kultur, das ist eine Mikrobe, die man anscheinend nicht ausmerzen kann.»Das war alles schön und gut, und niemand prahlte lieber als der schweigsame Lorin Weston; aber wie Vance sehr wohl wusste, wollte er, dass aus seiner Prahlerei so rasch wie möglich Wirklichkeit wurde.
    Die einzige Hoffnung bestand darin, sooft er konnte in diesen stillen Raum zurückzukehren und nach Kräften eine Schneise durch den dichten Dschungel der Vergangenheit zu schlagen. Aber Vance war sich nicht sicher, dass ihm das gelingen würde. Obwohl Mrs Tracy nichts sagte, war ihm klar, dass sie sich über seine Treffen mit Miss Spear in The Willows und über die Erlaubnis, in den Büchern zu schmökern, wunderte. Er hatte seit dem Lunch in Eaglewood zwei volle Tage dort verbracht, und heute, am zweiten Tag, war aus dem«großen Haus», wie Mrs Tracy es nannte, niemand den Berg heruntergekommen, um ihn einzulassen; er hatte nach Paul’s Landing zurückgehen und sie um die Schlüssel bitten müssen.«Ich weiß nicht, ob ich das darf», hatte Mrs Tracy gesagt, während sie sie ihm aushändigte, und dann:«Nun ja, es wird

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