Ein altes Haus am Hudson River
geplünderten Regale auf einen Titel, der Hilfe zu bieten schien.«Wege zum Werk unserer größten Dichter» 35 – beleibte Bände in abgewetztem schwarzem Leinen mit merkwürdigem, spitz zulaufendem goldenem Aufdruck. Nun ja, zumindest würden die ihm verraten, welche Autoren man zu der Zeit, als das Buch geschrieben wurde, für die besten hielt – immerhin so viel würde ihm klar werden. Er griff nach einem Band und setzte sich wieder.
Das Buch war nicht die Art von Wegweiser, die Vance erwartet hatte, keine Sammlung von Aufsätzen über die größten Schriftsteller. Charles Knight (so hieß der Verfasser) war einfach vor etwa achtzig Jahren durch eine Bibliothek wie die von Miss Lorburn gewandert, hatte mal diese, mal jene Blume gepflückt und sie mit wenigen Worten zu einem Strauß gebunden. Vance, daran gewöhnt, dass ihm durch eine Vorauswahl der Zugang zur Kultur erleichtert wurde, hatte eine frühe Version der«Harvard-Klassiker » 36 erwartet, stattdessen fand er die gemütliche Blütenlese eines Sammlers, der offenbar gar nicht auf den Gedanken gekommen war, ein Leser könne es zu eilig haben, um sich länger mit den tieferen Schönheiten der englischen Literatur zu befassen. Nach Lambs«Dramatikern»und Beddoes Buch stellten die hier ausgewählten Gedichte für Vance keinen großen Reiz mehr dar, doch als er sein Auge weiter schweifen ließ, erfuhr er zum ersten Mal, seit er die Bibel als ein Stück Literatur gelesen hatte, die erschütternde Macht englischer Prosa.
Im ersten Augenblick ergriff sie ihn fast noch mehr als die Gedichte, ließ ihn unendlich feine Verstrickungen aus Rhythmus und Bewegung ahnen, einen gewaltigen, flutenden Druck, den er nur spüren, nicht benennen konnte.«Mir ist, als säh ich eine edle und mächtige Nation sich wie ein starker Mann aus dem Schlafe erheben und die unbesiegbaren Locken schütteln, mir ist, als säh ich sie gleich einem Adler ihre kräftigen Jungen füttern, die furchtlosen Augen im vollen Mittagslicht aufleuchtend, den lang gepeinigten Blick gereinigt und befreit durch die Quelle des himmlischen Glanzes … Das Licht der Welt lag zu Beginn der Schöpfung ausgebreitet wie ein weites Tuch, es verweilte nirgends, sondern verstreute sich im leeren Raum wie ein lockeres Kleid der Luft oder wie der ungezähmte Saum des Feuers, ohne Band, ohne Plan, ohne Halt; doch Gott versammelte die Strahlen in seiner Hand und vereinigte sie zu einem Feuerball, und alles Licht der Welt wurde zur Sonne.»
Was ein Mensch auszudrücken vermochte, wenn ihn glückliche Lebensumstände mit solchen Wörtern und Sätzen vertraut gemacht hatten!
Vance schlug das Buch zu, saß da und starrte vor sich hin. Das Blut pochte ihm in den Schläfen. Die Wände mit den dunklen, modrigen Büchern schienen zu schwanken und sich aufzulösen, sobald sie ihn in ihre neue Welt einließen – eine Welt, zu der er sich irgendwie Zutritt verschaffen musste.«Ich muss dahinterkommen – ich muss dahinterkommen.»Leiernd, sinnlos wiederholte er die Worte wie eine Beschwörungsformel. Dann klarte sein Verstand allmählich auf, vermochte wieder den eigenen Regungen zu folgen. Um diese Welt zu betreten, brauchte er zweifellos Bildung – genau das, was er bereits zu besitzen geglaubt hatte!
Das sagten ihm nicht nur die Bücher, in die er eingetaucht war. Jedes Wort und jede Anspielung, die er in Eaglewood beim Lunch aufgefangen hatte, eröffneten ihm neue, ungewisse Horizonte. Natürlich verfügte jede menschliche Ansiedlung bis hinunter zum kleinsten Dorf über eine lokale Sprache, ein eigenes Repertoire von Anspielungen, ein Inventar von Witzen und speziellen Spötteleien. Bei den Tracys zum Beispiel erlebte man den Dialekt von Paul’s Landing so wie an Vance’ Familientisch den von Euphoria; aber das war etwas anderes. Vance hatte sofort erkannt, dass die Sprache, der Tonfall und die Anspielungen von Eaglewood nicht ausschließlich nach Paul’s Landing gehörten, ja dass sie damit kaum zu tun hatten; sie umfassten, wenn auch bloß leichthin und flüchtig, weite Bereiche, die sich nicht nur bis New York und darüber hinaus erstreckten, sondern auch bis in die geheimnisvolle Vergangenheit hinein, die für Vance so viel neuer war als jede Gegenwart. Diese unkomplizierten, liebenswürdigen Menschen konnten über alles reden – und redeten auch über alles! Das heißt, über alles außer über die Themen vor der eigenen Haustür, die den Hauptgegenstand der einzigen Konversation bildeten, die Vance
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