Ein altes Haus am Hudson River
wir jetzt essen? Du ahnst nicht, wie unmenschlich hungrig ein Sonnenaufgang macht – nicht wahr, Vance? Ach, und das ist Mr Frenside, von dem ich dir erzählt habe, der für ‹Die Stunde› schreibt. Das ist Mr Lewis Tarrant, und dies hier ist mein Bruder Lorburn. Du bist doch auch mit uns verwandt, nicht wahr, Vance? Lorry, das ist unser neuer Vetter Vance Weston.»
Während dieser raschen Vorstellungszeremonie blieb Halos Blick an Lewis Tarrants Gesicht ein klein wenig länger hängen als an den Gesichtern der anderen. So, das musste er jetzt schlucken, diese bittere Pille! Beschützen! Als ob ihr daran gelegen wäre, dass jemand sie beschützte! Jetzt wusste er, dass sie tatsächlich nachts mit dem Auto unterwegs gewesen war, zusammen mit diesem fremden Jungen, dass es sie keinen Deut kümmerte, wer darüber Bescheid wusste, und dass sie sich diesen Streich genau in dem Augenblick geleistet hatte, als er, Lewis Tarrant, übers Wochenende nach Eaglewood gekommen war, nachdem sie ihm fest versprochen hatte, ihm noch vor Ablauf dieses Besuchs endgültig zu sagen, ob sie ihn heiraten würde …
Lorry Spear brach als Erster das Schweigen, das dem Auftauchen des jungen Weston gefolgt war.«Unser neuer Vetter hat uns einen Bärendienst erwiesen – er hat verhindert, dass das kaputte alte Auto gestohlen wird. Dann hätten wir nämlich zumindest die Versicherungssumme kassieren können … Trotzdem sehr erfreut, Weston, ich bin Ihnen nicht im Geringsten böse.»Er streckte dem zunehmend verwirrten Vance die Hand entgegen.
« So ein Unsinn, Lorry … als ob wirklich jemand gedacht hätte …», unterbrach ihn Mrs Spear, und ihre umwölkte Stirn hellte sich auf, als sie merkte, dass ihr Sohn die Sache zu bereinigen half. (Das machte er nicht immer, aber wenn, machte er es meisterhaft.)«Sie fragen sich bestimmt die ganze Zeit, mein lieber Vance», fuhr Mrs Spear fort, die schönen Augen auf ihren Gast gerichtet,«wovon wir reden und warum der Lunch so lange auf sich warten lässt. Aber das ist das Werk der Vorsehung, wie Halo sagt, denn wir hätten nicht das Vergnügen, Sie bei uns zu sehen, wenn dieser dumme alte Wagen keine Panne gehabt hätte. Jetzt kommen Sie ins Esszimmer, mein lieber Junge, hier entlang. Ich setze Sie neben Mr Frenside, unseren großen Kritiker, den Sie dem Namen nach kennen – Sie lesen natürlich ‹Die Stunde›? George, das ist Halos Freund, der junge Romancier … nein, Dichter … Dichter, nicht wahr, Vance? Sie Glücklicher!»Mrs Spear legte ihm drängend die Hand auf die Schulter und schob ihn zum Esstisch.
11
Es war so still in dem düsteren, büchergesäumten Zimmer, dass die verstorbene Miss Lorburn, wäre sie wieder auf dem Schauplatz erschienen, den jungen Mann, der von ihrer Bibliothek Besitz ergriffen hatte, vielleicht ebenfalls für einen Geist gehalten hätte.
Vance arbeitete sich seit einigen Tagen durch die Bücher von The Willows, er wischte sie mit einem weichen Tuch ab und stellte sie gewissenhaft eins nach dem anderen an den richtigen Platz zurück. Am ersten Morgen war Halo Spear in einem jähen Anfall von Eifer aus Eaglewood heruntergeschossen, um Vance zu zeigen, wie er vorgehen musste; er hatte ja nie gelernt, wie man respektvoll und methodisch mit Büchern umgeht. (Mrs Weston hätte wahrscheinlich gesagt, man müsse sie so behutsam behandeln wie feinstes Porzellan.) Miss Spear hatte es ihm mit geschickter, sicherer Hand kurz vorgemacht, begleitet von fortlaufenden Erklärungen.«Du darfst die Bücher nicht schütteln, als wären es Teppiche, Vance. Es sind keine. Allenfalls sind einige von ihnen fliegende Teppiche, die einen auf die Rückseite des Mondes befördern. Aber Schlagen und Klopfen ist nichts für sie. Bücher haben nämlich Seelen wie Menschen, das heißt wie manche Menschen … Nein, ich wollte die Tracys nicht bitten, uns zu helfen, sie verstehen nicht viel von Büchern. Wir beide schaffen das auch allein. Schau: Wisch die Kanten vorsichtig ab, so, und dann bring die Seiten ganz leicht zum Flattern – als wärst du eine Biene, die eine Blume aufzuschütteln versucht –, damit der Staub rausgeht. Ach, hör mal, wie schön:
‹Ach, was vermag schon Adel hier,
Gestalt auch, göttlich rein!
Was alle Tugend, alle Zier!
Sie warn, Rose Aylmer, Dein.›» 30
Und dann hatte sie mitten im Abstauben und Lesen (Ersteres häufig unterbrochen von Letzterem) plötzlich auf die Armbanduhr geblickt und gerufen:«Um Gottes willen, Lewis wartet – das habe ich
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