Ein altes Haus am Hudson River
Trotzdem … hatte sie nicht ausdrücklich betont, sie habe sie ihm gezeigt? Nein, wörtlich hatte sie gesagt:«Ich habe Frenside deine Gedichte zum Lesen gegeben.»Nun ja, wahrscheinlich hatte der große Kritiker diese einmalige Gelegenheit nicht beim Schopf ergriffen, wahrscheinlich hatte sie ihm mit ihren Vorbemerkungen die Lust genommen.«Instinkt»nur für Klappentexte! Und dieser Unsinn von wegen«Morgenröte»und«Gebete»reimt sich nicht! Meine Güte, da stellt eine stocktaube Frau Regeln auf und ganz Eaglewood macht einen Kotau! Er konnte doch nur lachen bei dem Gedanken an diese Papporakel, die dort herumsaßen und einander erklärten, was was bedeutete … Was zum Teufel kümmerte ihn überhaupt deren Meinung über seine Dichtung und über ihn selbst? Lauter überhebliche Amateure … das war ja zum Lachen … Nun ja, morgen würde er nach New York fahren, sich auf eigene Faust umsehen und herausfinden, was die Fachleute von ihm hielten … Schließlich konnte er sich als Redaktionsmitglied des«Offenen Worts»bezeichnen.
Plötzlich durchschnitt ein Schatten das abendliche Sonnenlicht, das schräg auf sein Buch fiel, und er sah einen der jungen Männer aus Eaglewood am Fenster lehnen und zu ihm hereinschauen – nicht den blassen, unzufrieden wirkenden Lewis, sondern den anderen, Halos Bruder Lorburn. Lorburn Spear legte seine Hand aufs Fensterbrett, sagte:«Nanu – immer noch da?», und schwang sich ins Zimmer. Mitten im Raum blieb er stehen, die Hände in den Hosentaschen, und blickte sich mit einem amüsierten Lächeln und ironisch gehobenen Brauen um. Er war schlank und dunkel wie Halo, besaß die fein gezeichneten Gesichtszüge seines Vaters, war aber größer und weniger majestätisch als Mr Spear. Ein umgänglicher Bursche, an dem Vance vielleicht hätte Gefallen finden können, wenn nicht – ja, was? Vielleicht standen seine Augen zu nah beieinander. Großmama Scrimser sagte immer:«Trau keinem, dessen Augen so eng beieinanderstehen, dass sie sich etwas zuflüstern können.»Und ausgerechnet sie vertraute doch jedem – sogar Großpapa! Großmama hatte eben eine Schwäche für Grundsätze, so wie andere Leute eine Schwäche für Oliven haben; es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass sie für etwas anderes gedacht waren, als angenehm über die Zunge zu kullern …
« Na», sagte Lorry Spear freundlich,«was für ein Glück, dass ich Sie noch im Mausoleum finde. Vermutlich hat Halo Ihnen hier etwas zu tun gegeben und Sie dann versetzt? Hab ich mir gedacht. Sie hat versprochen, mich nachher abzuholen, aber ob sie kommt … Haben Sie was Unterhaltsames gefunden? Zigarette? Nein?»Er zog sein Etui heraus, zündete sich eine an und ließ sich in den Sessel neben Vance fallen.«Hier müsste nämlich einiges zu finden sein», fuhr er fort und ließ seinen Blick prüfend umherwandern, obwohl seine Aufmerksamkeit noch immer auf Vance gerichtet zu sein schien.
« Einiges?», wiederholte Vance aufgeregt.«Das kann man wohl sagen! Schauen Sie hier, kennen Sie das?»Er schob den bei Beddoes aufgeschlagenen Band der«Wege zum Werk …»über den Tisch. Lorry Spear nahm das Buch in die Hand, blickte auf die Titelseite und warf es wieder hin.«Na ja – ich glaube nicht, dass dafür jemand etwas bietet, es sei denn, es sticht einem Lumpensammler ins Auge.»
« Einem Lumpensammler?»
Die beiden jungen Männer starrten einander an, und Lorry lachte.
« Ach, ich sehe schon, Sie sind ein Leser . Halo hat es mir erzählt. Natürlich, das ist auch eine denkbare Unterabteilung.»
« Unterabteilung? Von was?»
« Vom Büchersammeln. Denn dafür gibt es doch Bücher, oder? Selbst Leute, die sie lesen, müssen sie sammeln. Ich persönlich bin aber nicht der Ansicht, dass sie dafür gemacht worden sind. Man kann alles Gerede, wonach einem der Sinn steht – viel zu viel! –, von den Lebenden bekommen; ich sehe nicht ein, warum man noch die Toten bemühen soll. Das Schöne an Büchern ist ihre Aufmachung, wie bei Frauen. Was ist eine Frau ohne Kleid und Make-up? Fast nichts, wenn sich einmal das erste Staunen gelegt hat, glauben Sie mir … und ein Buch ohne das richtige Papier, die richtige Schrift, den richtigen Einband und das richtige Erscheinungsjahr ist für mich nur eine Niete.»Er stand wieder auf, die Zigarette in der Hand, und schlenderte durchs Zimmer.«Aber ich glaube, hier gibt es einfach nicht viel zu holen. Ich wollte mich immer mal umschauen und habe nie die Zeit dazu gefunden … vielleicht ein paar
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