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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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aus Kaffee und Butterbrot und wurde in ein makellos sauberes Schlafkämmerchen gewiesen. Erst als er einschlief, wurde ihm bewusst, dass Mrs Tracy in ihrem Garten ein Beet mit Wicken hatte und dass eine ausgestopfte Taube sie wohl kaum für die Kosten seines vierzehntägigen Aufenthalts entschädigen würde. Er schämte sich seiner Dummheit und wurde die ganze Nacht von dem Bild des trübseligen Lächelns verfolgt, mit dem sie seine unpassende Achtungsbezeigung in Empfang nehmen würde. Wahrscheinlich wüsste nicht einmal Laura Lou, was sie mit einer ausgestopften Taube anfangen sollte. Dabei war ihm der Korb mit dem schimmernden, leichtfüßig balancierenden Vogel wie reine Poesie erschienen, als er ihn ausgesucht hatte …
    Die Wochen vergingen. Nach den zulässigen vierundzwanzig Stunden im«Freundschaftshaus»bekam Vance ein Gästehaus empfohlen, das gewiss so respektabel war wie versprochen, aber wenig Annehmlichkeiten bot, zumindest nicht bei Hitze. Während dieser ersten einsamen, erstickend heißen Tage und Nächte sehnten sich Vance’ schwacher Körper und wundes Herz nach seinem hübschen Zimmer zu Hause, nach dem funkelnden Bad, nach dem Schatten der Bäume in der Mapledale Avenue. Aber da er entschlossen war, durchzuhalten, bis er Arbeit gefunden hatte, wagte er kein besseres Zimmer zu nehmen, und die Vorstellung, heimzufahren, war ihm noch verhasster als sein gegenwärtiges Elend. Der Kern seines Elends war jedoch die Einsamkeit, eine unablässige, nagende Einsamkeit des Geistes und des Herzens. Ihn lähmte das Bewusstsein, dass in diesem gigantischen Gewirr von Menschen kein Einziger jemals von ihm gehört hatte oder sich im Geringsten für seinen Fall interessieren würde, wenn er um Verständnis bäte; niemanden kümmerte es einen Deut, dass in ihm alle Kräfte des Universums brodelten. Ihm war genauso trostlos zumute wie damals, als er durch den Flur ins Zimmer seiner Eltern gestolpert war und tastend nach dem Revolver gesucht hatte. Ihm war, als sei das Leben für ihn vorbei …
    Doch die Flut der Lebenskraft stieg nicht so rasch wie damals. Jetzt war er in einer anderen Situation. Damals hatte er beschlossen zu warten, bis ihm das Leben eine weitere Chance bot, und das Leben hatte ihm diese Chance geboten – eine großartige Chance. Und was hatte er daraus gemacht? Seine Wut auf Mrs Tracy, auf Upton und die Spears war nur ein Strohfeuer; sie wich bald einem anhaltenden Gefühl des Versagens. Er selbst war schuld, und nur er. Upton war ein hinterhältiger kleiner Dummkopf, aber er, Vance, war der Ältere und hätte als der Erfahrenere auch der Stärkere sein müssen. Er hätte der Versuchung widerstehen müssen, mit diesen Taugenichtsen und aufdringlichen Gören herumzulungern und zu trinken, hätte sich des Versprechens erinnern müssen, das er Mrs Tracy gegeben hatte, nach dem Spiel mit Upton heimzufahren. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen, denn dann wäre er gleich am nächsten Morgen nach The Willows zurückgelaufen, hätte bemerkt, dass die Bücher verschwunden waren, und womöglich verhindern können, dass er in Ungnade fiel und Miss Spear unglücklich war. Er konnte nicht vergessen, wie unglücklich sie ausgesehen hatte, als ihr zum ersten Mal bewusst wurde, dass wahrscheinlich ihr Bruder die Bücher genommen hatte. Dies schmerzte Vance mehr als seine eigene Jämmerlichkeit. Sein einziger Trost war, dass er sofort erkannt hatte, was ihr durch den Kopf ging, dass er ihr Signal begriffen und befolgt hatte. Sie hatte das gemerkt und war ihm dankbar dafür; die Tatsache, dass sie ihn dem Bruder geopfert hatte, kränkte ihn nicht – sie knüpfte eher ein neues Band zwischen ihnen …
    All dies nahm langsam in seinem Kopf Gestalt an, und in der Zwischenzeit wartete er und dachte über seine Lage nach. Sein erster Impuls war gewesen, niemanden wissen zu lassen, wo er sich befand. Er lebte in der Angst, nach Euphoria zurückverfrachtet zu werden, sobald seine Eltern erfuhren, dass er nicht mehr bei den Tracys wohnte. Doch ihn verlangte danach, im leeren Raum zu verschwinden, in ein eigenes Universum zu entkommen, wo ihn nichts erreichte, was mit seinem früheren Leben in Verbindung stand. Genau das hatte er auch zu tun versucht, nachdem er seinen Großvater und Floss Delaney am Fluss gesehen hatte, doch diesmal hätte sein Selbstmord eine andere Form angenommen: Er hätte sich in der Großstadt verloren und wäre erst wieder aufgetaucht, wenn er sich eine neue Existenz geschaffen hätte.

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