Ein altes Haus am Hudson River
Aber er kam bald wieder zur Besinnung und machte sich klar, dass Mrs Tracy, erschrocken über seine Abreise, bestimmt an seine Familie schreiben würde und dass diese, wenn er kein Lebenszeichen von sich gab, ebenfalls erschrecken und die ganze Polizeimaschinerie in Gang setzen würde, um ihn zu suchen. Für einen jungen Mann mit einer ängstlichen Familie war es heutzutage nicht leicht, sich zu verlieren, und Vance hatte nicht die Geistesgegenwart besessen, in seiner Pension einen falschen Namen zu nennen.
Er schrieb seiner Mutter kurz angebunden, es gehe ihm gut und ob die Familie ihn bitte in Ruhe lassen könne und ihm in New York eine Chance geben würde, jetzt, wo er hier sei? Er habe Paul’s Landing verlassen, weil er sich kräftig genug fühle, bei einer Zeitung zu arbeiten, er habe keine Lust mehr gehabt, bei den Tracys herumzulungern, zumal es dort noch viel heißer sei als in der Stadt. Geld habe er noch genug, und er habe bereits einen berühmten Redakteur kennengelernt (das stimmte ja, obwohl er lieber verhungert wäre, als sich an George Frenside zu wenden). Mit dem gutmütigen Sekretär im«Freundschaftshaus »vereinbarte er, dass seine Briefe dorthin geschickt werden konnten; diese Adresse würde die Familie beruhigen.
Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Seine Schwester Mae schrieb, der Vater sei zu einem Maklerkongress nach Seattle gereist und werde erst in gut einem Monat zurückkehren. Mrs Weston habe sich zwar aufgeregt und ängstige sich bei der Vorstellung, dass er allein in New York sei, aber Großmama Scrimser habe sie überreden können, sich nicht einzumischen, sondern zuzulassen, dass er sein Glück versuche, zumindest bis der Vater wieder daheim war. Nachdem dies geregelt war, befasste sich Vance mit seiner restlichen Barschaft – denn er wusste genau, dass sein Vater nicht daran denken würde, ihm noch einmal Geld zu schicken, bis er eine Arbeit gefunden hätte. Die versprochene Unterstützung war für die Genesung in Paul’s Landing gedacht gewesen; wenn er dort nicht bleiben wollte und kräftig genug zum Arbeiten war – bitte!
Unterdessen hatte er New York für sich und empfand es als wichtigste Aufgabe, allen Verstand zusammenzunehmen und diese Chance nicht zu verspielen, wie er die andere verspielt hatte. Vor allem musste er mit den verbliebenen Dollars möglichst lange auskommen; darauf konzentrierte er sich und verzichtete auf jede Form von Unterhaltung, die etwas kostete, aß in den billigsten Lokalen, ließ manchmal das Mittagessen ausfallen, wanderte stundenlang durch die Straßen und starrte auf das fremdartige, wirre Spektakel, das so demütigend ungerührt über ihn hinwegging.
Dennoch war er nicht immer einsam. Wenige Tage nach seiner Ankunft stieß er, als er in die Fifth Avenue einbog, unversehens auf die Public Library. Eingeschüchtert von der pompösen, zu einem friedlichen Refugium für Lernbegierige so gar nicht passenden Fassade, fragte er sich, ob das eines der Nobelhotels sei, von denen er gehört hatte, das«Ritz»oder das«St. Regis», dann schaute er genauer hin und las die Inschrift. Auf der Stelle rannte er die breite Treppe hinauf, trat unerschrocken durch die Türen und erkundigte sich bei der erstbesten Amtsperson, ob er hier lesen dürfe. Er durfte, sogar ohne einen Cent zu zahlen, und viele Stunden am Tag. Anfangs verwirrte ihn alles und er war ratlos, wie er vorgehen sollte, doch was Bücher betraf, schien ihn ein Gespür zu leiten, und es dauerte nicht lang, da hatte er Zugang zu einer Reihe von Karteikästen und verlor sich darin wie in den Tiefen eines Waldes … Freilich fehlte dem Haus der Zauber von The Willows, da der Leser wissen musste, was er wollte, und nicht nach Belieben von einem Regal zum nächsten streifen und sich dem geheimnisvollen, fast körperlich zu spürenden Lockruf sichtbarer, greifbarer Bücher überlassen konnte. Auf dieses Vergnügen durfte er erst hoffen, wenn – nun ja, wenn er genug Geld verdient hatte, um eine eigene Bibliothek zu besitzen. Vorläufig war es wunderbar genug, dass er in dieser Stille in einer Nische sitzen durfte, vor sich einen Stapel Bücher, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände in den Haaren vergraben, die Seele in eine neue Welt eingetaucht …
Die Wochen vergingen, und wenn ihn auch die Stunden in der Bibliothek nichts kosteten, so zehrten doch die in der Pension seine Geldmittel auf. Er mochte seiner Mutter von einer Arbeit geschrieben haben, aber bisher hatte er noch bei keiner Zeitung
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