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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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nachgefragt. Erst wollte er New York ein wenig besser kennenlernen – wie es hier aussah, wie man sich benahm, wie man sprach –, um nicht gar so sehr als ahnungsloses Landei zu erscheinen. Das zumindest redete er sich ein, aber in Wirklichkeit nahm ihn die Bibliothek restlos gefangen, und seine Ahnungslosigkeit entpuppte sich als unerwartet überwältigend, sodass es ihn jeden Tag aufs Neue zu den von Löwen bewachten Toren des Wissens zog. Um sich selbst weiszumachen, er könne endlos so weiterleben, begann er seinen New-York-Roman zu konzipieren. Erst viel später begriff er, dass es für einen grünen Jungen, der seine Erfahrungen einzig in einem Fremdenheim und einer Bibliothek sammelte, schwer war, aus den Millionen Fäden des Großstadttreibens eine Geschichte zu weben, schwerer noch, als einen Zeitungsartikel zu verfassen. Er glaubte, all die Eindrücke, die seinen schöpferischen Instinkt ansprachen, seien schon so etwas wie Erfahrung, und er setzte sich voll Leidenschaft und Eifer hin, um seinen Traum in eine Form zu gießen. Dennoch würde sein Roman, selbst wenn er ihn fertigstellen konnte, ungeheuer viel Zeit verschlingen, und in dieser Zwischenzeit musste er sich seinen Lebensunterhalt anders verdienen.
    Während er sich so von Traum zu Traum treiben ließ, täglich weniger aß und täglich länger las, geriet er in jenen Zustand seltsamer Erleuchtung, der glühend begeisterte junge Menschen erfasst, wenn der Körper hungert und der Geist genährt wird. Seine zitternden Finger füllten Seite um Seite mit Lyrik und Prosa; anscheinend waren alle gedanklichen oder sprachlichen Schwierigkeiten überwunden, und er konnte ersinnen und formulieren, was immer sein ruheloser Geist sich wünschte. Der Schleier der Materie war so durchsichtig geworden, dass das Licht der Ewigkeit hindurchschien, und in diesem reinen Glanz sah er mit übernatürlicher Deutlichkeit Götter zwischen den Menschen wandeln und Engel die Himmelsleiter auf- und absteigen. Aber Jakobs Kissen 44 ist hart für einen jungen, noch vom Fieber geschwächten Kopf, und als er sich eines Morgens nach einer Nacht elenden Hin- und Herwälzens an den Tisch schleppte und seine Blätter herauszog, war sein Kopf leer, und er konnte kaum entziffern, was er tags zuvor geschrieben hatte. Er blickte auf und sah in dem fleckigen Spiegel ein so blutleeres, eingefallenes Gesicht, dass er sich am Rand einer weiteren Krankheit wähnte, und als er sein Geld zählte, wurde ihm klar, dass es selbst bei einer strikten Hungerkur nur noch für eine Woche reichte.
    Um ihn wurde es licht und wirbelig, als wäre die Luft in Millionen schimmernde Splitter zerborsten. Es gelang ihm, sich anzuziehen und zum nächstgelegenen Speiselokal zu gehen, und zum ersten Mal seit Tagen bestellte er sich heißen Kaffee und ein paar Eier. Nach dem Essen fühlte er sich besser, aber so müde und schwer, dass er heimkroch, sich auf das ungemachte Bett warf und dort stundenlang traumlos schlief. Als er aufwachte, begriff er, dass er mehr essen musste und es nur einen Weg gab, an Essen zu gelangen: Er musste sich Arbeit suchen. Viel weiter vermochte er nicht zu denken, dazu war er zu schwach, doch er gönnte sich noch einmal eine anständige Mahlzeit, und am nächsten Tag machte er sich auf den Weg. Er ging von Zeitung zu Zeitung, wurde höflich oder unhöflich empfangen, wurde um seine Qualifikationen gebeten und sah zu, wie man seinen Namen und seine Adresse aufschrieb; aber niemand zeigte Interesse, und von der letzten Schwelle kehrte er ohne alle Hoffnung zurück. Wenn ihn niemand empfahl und er keine journalistische Erfahrung hatte, welche Aussicht hatte er dann, Arbeit zu bekommen? Die einzige Alternative war Euphoria, aber er war zu deprimiert, um sich mit diesem Gedanken zu befassen.
    Ihm blieb nur noch eine einzige Chance: Mr Frenside, der bei allem brummeligen Spott nicht unfreundlich gewesen war. Er wusste von Vance’ Bestrebungen und war vielleicht bereit, ihm einen Rat zu geben – sofern ihm nicht aus Eaglewood unvorteilhafte Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Doch Vance erinnerte sich an Halo Spears freundlichen Blick beim Abschied, hörte sie sagen:«Jetzt geh, aber komm eines Tages wieder», und vermutete, dass sie zwar ihren Bruder unbedingt schützen, Vance aber nicht ungerecht leiden lassen wollte. Inzwischen hatte er entdeckt, dass«Die Stunde»wie befürchtet ein reines Intellektuellenblatt und für ihn deshalb ungeeignet war, aber Frenside hatte bestimmt Beziehungen

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