Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
der Sonne sitzen konnten. Er wollte seinen ersten Besuch in The Willows wieder aufleben lassen, als er Laura Lou und Upton begleitet hatte und wie verzaubert in der Bibliothek zurückgeblieben war, während Laura Lou, das Haar mit einem Handtuch umwickelt, mit Upton weiter die Räume abstaubte und lüftete. Damals hatte Vance ihr kaum Beachtung geschenkt, hatte in ihr nur ein lästiges Schulmädchen gesehen, das sich unerwünscht einmischte wie seine Schwestern Pearl und Mae, besonders Pearl. Und jetzt …!
    Sie stand schon am Tor; er erblickte sie durch die Äste im pudrigen Gold des Herbstlichts. Sie winkte ihm zu und öffnete das Tor, und er folgte ihr.«Nein, das darfst du nicht», flüsterte sie, als sich seine Arme nach ihr ausstreckten, und fuhr lachend fort:«Wo doch schon alles Laub von den Büschen gefallen ist und der Hausmeister hier rumschleicht …»
    « Den soll der Teufel holen. Können wir nicht irgendwo in Ruhe reden?»
    Er sah sie an, als wolle er den Anblick für den Fall einer künftigen Trennung aufbewahren; dabei wusste er schon jetzt, dass er sie nie mehr verlassen wollte.«Kann ich nicht wenigstens deine Hand halten?», fragte er, eingeschüchtert von etwas Zartem, Unreifem an ihr, das sein Ungestüm zügelte.
    « Oh, na gut», gab sie nach, und Hand in Hand wie zwei Kinder gingen sie auf das Haus zu. Vom Flechtwerk der entlaubten Weiden kaum mehr verdeckt, stand es mit all seinen Erkern und Türmchen jetzt plastischer da, als er es in Erinnerung hatte; aber auch wenn es weniger romantisch wirkte, erschien es ihm immer noch geheimnisvoll. Lautlos liefen sie auf dem vom Regen platt gedrückten gelben Gras außen herum zur anderen Seite, wo die Veranda und die schiefwinkligen Balkone im gierigen Griff der nackten, verdrehten Glyzinienarme aussahen wie der Torso eines alten Laokoons 55 .
    An einigen Eichen hing noch Laub, und die immergrünen Baumgruppen ragten schwarzblau und unerschütterlich auf. Doch die meisten Bäume waren schon kahl, und so zeigte sich am Ende eines Weges eine wacklige Pergola, die Vance noch nie aufgefallen war.«Setzen wir uns dort hin.»Sie überquerten den nassen, von Spinnweben überzogenen Rasen und betraten die Laube. Der alte Hausmeister war nirgends zu sehen, und Vance zog Laura Lou an sich und setzte seine Lippen auf ihre Lider.« Seit gestern will ich deine Augen küssen.»Sie lachte leise, und sie setzten sich eng nebeneinander auf die bemooste Bank.
    « Früher hast du mich nie beachtet», sagte sie, und er antwortete:« Damals war ich noch ein blinder Welpe. Alle Welpen werden blind geboren.»Er wollte seinen Kuss zu ihren Lippen hinunterwandern lassen, aber sie schob ihn weg. Die Zartheit ihrer Berührung gebot ihm Einhalt, doch er flüsterte rebellisch:« Warum – warum?»
    Sie antwortete, sie habe lediglich versprochen, zu kommen und alles mit ihm zu besprechen, er dürfe sie nicht belästigen, sonst müsse sie gehen, und warum sie nicht einfach ruhig hier sitzen könnten, wo es doch so viel zu sagen gebe und so wenig Zeit sei? Er hörte kaum, was sie sagte, aber in ihrer Sanftheit – oder vielleicht in ihrer Schönheit – lag eine Macht, die ihn bändigte.« Und deine Hand …?»
    « Ja.»Sie überließ sie ihm mit diesem Lächeln, das ihren Mund zu einem Blütenkelch machte. O schale Metaphern!
    « Jetzt erzähl.»
    Und sie erzählte, wie ihre Mutter sich aufgeregt hatte, als er so plötzlich fortging («Das hat sie nicht gewollt, Vance, sie hatte nur Angst …»), wie sie staunten, als am nächsten Tag der Blumenkorb mit der Taube kam, wie Mrs Tracy anfangs wütend war und sagte:«Ist er verrückt?», und dann weinte:«Bestimmt hat er dafür das ganze Geld vergeudet, das ich ihm zurückgegeben habe», und wie sie dann wieder der Zorn packte, weil sie überzeugt war, dass sie alle seinetwegen ihre Arbeit in The Willows verlieren würden. Sie verloren sie tatsächlich und bekamen sie erst wieder, nachdem Miss Halo eingeschritten war, die Bücher sich gefunden hatten und der alte Mr Lorburn beschwichtigt worden war. («Aber die Taube war hübsch, Vance. Sie klemmt jetzt über meinem Spiegel …») Beim Gedanken an eine so wunderbare Belohnung musste er ihre Hand ganz fest umklammern, um sich feurigere Liebkosungen zu versagen. Niemals hätte er sich, als er die Taube kaufte, erträumt, dass sie einmal als Botin der Venus fungieren würde!
    Sie erzählte weiter, dass es eine Weile sehr schwer gewesen sei, weil sie sechs Monate lang keine Arbeit hatten.

Weitere Kostenlose Bücher