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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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nicht zum funkelnagelneuen Komfort der Mapledale Avenue zu passen, dass hier wahrscheinlich ein alter Mann sterben würde.«Vergangenheit gibt es hier wohl nur auf den Friedhöfen», sinnierte er eines Tages und blickte mitleidig auf seinen Großvater.
    Und jetzt machte er sich wieder los, kehrte zurück in eine Atmosphäre, die beladen schien vom Staub der Jahrhunderte. Als er damals in New York gewesen war, hatte er die Wolkenkratzer, die nur etwas höher waren als die ihm bereits bekannten, kaum beachtet, aber an einem seiner letzten Tage war er in die Trinity Church gegangen, langsam und staunend über den Friedhof gewandert und grübelnd vor Namen und Daten stehen geblieben … Die Vorstellung, dass es Menschen gegeben hatte, zeitlich gar nicht so weit von ihm entfernt, die immer unter demselben Dach gelebt hatten und dort auch gestorben waren und jeden Sonntag in derselben Kirche wie ihre Vorfahren den Gottesdienst gefeiert hatten, rührte auf unbestimmte Weise an seine Sehnsucht nach Beständigkeit. Als er die Kirche betrat und die Gedenktafeln an den Wänden las, genau über den Plätzen, wo die Männer und Frauen, derer hier gedacht wurde, gesessen hatten, war ihm zumute, als fühlte er durch das Leichentuch der Mumien, die er im Museum gesehen hatte, ein Herz schlagen. Der Ozean und die alte Trinity Church, das waren New Yorks Geschenke an ihn …
    Und nun kehrte er voller Hoffnung zurück an den Ort, der anscheinend seine geistige Heimat geworden war. Die ewige, eisige Last der Mutlosigkeit war mit dem ersten Wort des Briefes der«Stunde»von ihm abgefallen. Diesmal würde er es schaffen. Nicht als Journalist, das hatten ihn seine Erfahrungen beim« Offenen Wort»gelehrt: Wenn sein Vater nicht Anteilseigner gewesen wäre, hätte Vance sich nicht einmal in dieser unbedeutenden Stellung halten können. Aber daran gab es nichts zu bedauern. Jetzt würde er Schriftsteller sein, Romanautor. Eine New Yorker Zeitschrift hatte ihm die Türen geöffnet; er musste sich im Geiste nur noch einmal den Brief aus der Redaktion vorlesen, schon schwirrten ihm neue Projekte und Ziele durch den Kopf.«Ein großer Roman – jetzt schreibe ich doch noch einen großen Roman», dachte er, aber bis dahin würde er ihnen so viele Kurzgeschichten liefern, wie sie wollten. Themen umschwärmten ihn, Eröffnungssätze schrieben sich wie von selbst auf die Vorhänge des Schlafwagens. Die ganze Nacht lag er wach in einem Rausch des Erfindens, geschaukelt vom Rhythmus des Zuges, als trügen ihn die großen Atlantikwellen vorwärts, seinem Schicksal entgegen.

    Der milde Novembertag glitzerte im Sonnenlicht, als sich Vance aus der Grand Central Station drängte. Die Reisetasche in der Hand, machte er sich auf den Weg zu der Pension, in der er damals gewohnt hatte. Er wusste nicht, wohin er sonst hätte gehen sollen, aber bestimmt würde ihm jemand von der«Stunde»einen Tipp geben. Er wollte nur sein Gepäck abstellen (es war zum Bersten voll von Manuskripten) und sich kurz waschen, bevor er sich in der Redaktion vorstellte. Es war fast zehn Uhr, für elf Uhr hatte er per Telegramm seinen Besuch angekündigt.
    Es war der Tag nach dem Thanksgiving-Wochenende 49 , und der riesige Bahnhof wimmelte von abreisenden und ankommenden Menschen. Draußen war dicht am Straßenrand eine Reihe langer rubberneck cars 50 vorgefahren, und gedankenverloren betrachtete Vance eine Gruppe Touristen, überwiegend Mädchen, die in einen hineinkletterten. Er glaubte noch nie so viele glückliche, unbekümmerte Gesichter gesehen zu haben. Bestimmt kitzelte die New Yorker Luft die Menschen wach, ließ sie funkeln wie das Licht an diesem balsamischen Tag. Vance, der sich immer über volle Straßen und vergnügliches Treiben freute, blieb stehen, um zuzuschauen. Er sah ein Mädchen mit einem knapp sitzenden blauen Hut in den Wagen vor ihm springen. Ihre Bewegung war federleicht und tänzerisch, er hätte sie nicht weniger romantisch beschreiben können. Sie wurde verschluckt von einer kichernden Horde, und unter der blauen Krempe konnte Vance das kurz geschnittene, strohblonde Haar nur erahnen, ebenso wie ihr Gesicht, so durchscheinend, dass die dünnen braunen Augenbrauen dunkel wirkten, gleich den samtigen Halbmonden auf einem Schmetterling. Sein Gefühl des beschwingten Neuanfangs schien in dieser morgendlichen Vision verkörpert, und er vergaß seine Tasche, vergaß«Die Stunde»und sogar seinen gesunden Frühstückshunger. Er wollte nur noch wissen, ob in

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