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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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zerbrechlich, fast unkörperlich, als könnte sie auf ein schnelles Wort oder eine Bewegung hin verschwinden.
    « Ach, Vance, ist das nicht lustig? Ich wusste nicht, dass du in New York bist», sagte sie, und er dachte:«Ich fand ihre Wangenknochen immer zu hoch, und jetzt sieht sie mit diesen kleinen Schatten darunter aus wie die marmornen griechischen Priesterinnen mit dem Lächeln unter den Lidern …»(In der Collegebibliothek von Euphoria hatte er in einem Buch Fotografien solcher antiken Kunstwerke gesehen.)
    « Es ist drei Jahre her, dass ich hier war. Du bist inzwischen erwachsen geworden, nicht wahr?», sagte er, und sie gab ihm recht:«Ja, ich glaube auch», mit einem Lachen, das ihren Mund aufplatzen ließ wie eine rosa Schote und Zähne enthüllte wie perlweiße Erbsen.
    « Drei Jahre …», echote er, und plötzlich erinnerte er sich, wie sie sich am ersten Abend bei den Tracys über ihn gebeugt hatte, als er in der Hängematte lag, und aus seinem Knopfloch den Fliederzweig schnappte, den er morgens auf seinem Kopfkissen gefunden hatte.« Du hast den Flieder auf mein Kissen gelegt, bevor ich wach wurde!», rief er; die Worte brachen aus ihm heraus, bevor er sich ihrer bewusst wurde. Er schaute sie gespannt an, und sie wandte den Blick nicht ab, aber ein Licht wie ein rosiger Widerschein stahl sich von ihrem Hals zu den Schläfen hoch.« Natürlich!», triumphierte er.«Ach, du bist wie eine tropische Muschel, durch die die Sonne hindurchscheint», rief er, und sie antwortete:«O Vance, immer sagst du so komische Sachen! Ich sterb noch vor Lachen, wenn du nicht aufhörst …»Erst als sie ihre weiche, bloße Hand zurückzog, merkte er, dass er sie umfasst hielt, seit er sich zu ihr durchgedrängt hatte.
    « Auf diesem leeren Grundstück zu Ihrer Rechten», bellte Bunty Hayes, während der Wagen über die Fifth Avenue fuhr,« stand früher die Fünf-Millionen-Villa von Selfridge B. Merry 52 . Sie wurde vor Kurzem an die Searchlight Company verkauft, die dort für fünfundzwanzig Millionen Dollar einen fünfzigstöckigen Wolkenkratzer errichten will, mit einem Gymnastikraum unterm Dach, einem Nachtclub, einer New-Thought-Kirche 53 und einem Hubschrauberlandeplatz … Bei dem gotischen Bau zur Linken handelt es sich um die reformiert-methodistische Kirche …»
    Vance griff wieder nach Laura Lous Hand und hielt sie zwischen seinen beiden Händen fest.«Um Himmels willen – das ist doch nur ein Witz, dass du mit ihm verlobt bist, oder?»
    Sie senkte die Wimpern, die ebenso samtig waren wie ihre Augenbrauen, nur noch dunkler, wie die Blütenblätter brauner Stiefmütterchen. Ihre Hand lag noch immer vertrauensvoll in der von Vance.«Na ja, er sieht’s wohl so», sagte sie.
    « Ach, soll er doch!», rief Vance spöttisch. Er warf einen kurzen Blick auf das jüdische Mädchen mit der randlosen Brille, das sich nun abgewandt hatte und eine Schachtel mit Marshmallows nach hinten weiterreichte, schlang den Arm um Laura Lou und küsste sie feurig.
    Sie wurde ein wenig blass und schrak zurück, aber so willfährig und mit einem Augenausdruck, als hinge sie, obwohl sie sich zurückzog, noch immer an seinen Lippen, dass er innerlich jubelte:«Sie weiß, sie gehört zu mir», und hätte in seiner Brust noch anderes Platz gehabt als dieser Rausch, wäre es Mitleid gewesen für den jungen Mann mit dem dicklichen Gesicht, der ins Mikrofon brüllte:«Wir nähern uns jetzt dem letzten Privathaus auf der Fifth Avenue. Es gehört bis heute einer der alten Familien der Oberschicht, die man auf der ganzen Welt unter dem Begriff ‹Die Vierhundert› 54 kannte.»

18
    Als Vance am nächsten Tag in Paul’s Landing aus dem Zug stieg, standen auf dem Bahnhofsvorplatz noch immer die gleichen Pferde vor den ramponierten Kutschwagen und schüttelten niedergeschlagen den Kopf.
    Er sprang auf eine vorbeifahrende Straßenbahn auf und ließ sich aus der Stadt tragen. Am Fuß einer vertrauten, von entlaubten Ahornzweigen überwölbten Straße stieg er aus und schlug den Weg hinauf zu The Willows ein. Laura Lou hatte gesagt, sie werde den Schlüssel fürs Tor mitbringen. Ins Haus könne sie ihn nicht einlassen, denn seit dem Diebstahl der Bücher (die wieder zurückgebracht worden seien, wie Vance sicherlich erfahren habe) verstecke Mrs Tracy den Schlüssel, niemand wisse, wo. Aber Vance war entschlossen, zumindest den Garten und das Haus von außen wiederzusehen, und der Tag war so windstill und mild, dass sie bestimmt auf der Veranda in

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