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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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einzufangen und zurückzuschießen.
    Es war einer jener windstillen Dezembertage, an denen die Luft nach Mai riecht und es einem seltsam vorkommt, dass man kein Gras sprießen und keine Knospen aufbrechen sieht. Die ausgefahrene Straße lag golden vor Vance und Laura Lou, und als sie aus dem Haus des Methodistenpfarrers traten, schienen sie geradewegs in die Sonne zu wandern.
    Vance hatte alles genau geplant, aber niemandem etwas gesagt, nicht einmal seiner Braut. Auf die kirchliche Zeremonie hatten sie sich allerdings zuvor geeinigt, als Zugeständnis an Laura Lous Vorurteile und ihre Angst vor der Mutter. Wenn Mrs Tracy von der Hochzeit erfuhr, musste es so aussehen, als sei alles mit der gehörigen Feierlichkeit vor sich gegangen. Nicht, dass Vance seinen Glauben verloren hätte, aber seit er im Grundkurs Philosophie gelernt hatte, dass die Religion, die er erfunden zu haben meinte, einfach ein unbestimmter Pantheismus 57 gewesen war und in den Grundzügen auf die Anfänge der Metaphysik zurückging, hatte er das Interesse an dem Thema oder zumindest an seiner unausgegorenen Vision verloren. Jetzt wollte er erfahren, was andere Menschen sich vorgestellt hatten, vor langer Zeit, am Anfang allen Denkens, und er vermochte keinen Zusammenhang zu erkennen zwischen den gewaltigen Träumen und Visionen, in denen sich sein Geist bewegte, und der Notwendigkeit, in einem Raum mit einer Rogers-Statuette 58 auf dem Büfett vor einen reizbaren Mann mit Goldzähnen zu treten, ihm haufenweise Sätze über Gott und Laura Lou nachzuplappern und dafür noch fünf Dollar zu zahlen.
    Gut, das war überstanden und hatte nichts mehr zu bedeuten; alles, was jetzt kam, war vorläufig noch sein Geheimnis. Laura Lou war nicht unangenehm neugierig gewesen, sie hatte wie ein liebes kleines Mädchen gewartet, bis sich die Tür zum Weihnachtszimmer öffnete. Er wusste, dass es ihr genügte, dazustehen und zu ihm aufzuschauen, die Hand auf seinem Arm, seinen Ring an ihrem Finger. Von diesem Augenblick an war alles, was sie war oder wollte, in ihm versunken und verloren. Seine eigenen Pläne jedoch waren wohldurchdacht, er war in jenem Zustand strahlender Verzückung, wo kein äußeres Detail zu unbedeutend ist, um in das Muster des eigenen Glücks eingewoben zu werden.
    « Komm», sagte er,«wir können den Zug noch erwischen.»Sie liefen durch die endlosen Straßen des Städtchens auf Long Island und kamen am Bahnhof an, als gerade die letzten Reisenden in den Zug stiegen. Am Ende des Wagens fanden sie zwei Plätze, wo sie mit ineinandergeschlungenen Fingern sitzen konnten, während sich der Zug durch unendliche Vorstädte schob und schließlich das offene Land mit Bäumen und Feldern erreichte. Eine Zeit lang sprachen sie beide kein Wort. Laura Lou, den Kopf leicht zum Fenster gewandt, betrachtete die vorbeigleitende Landschaft mit großen Augen, sodass Vance nur die Rundung ihrer Wange sehen konnte und das Licht, das durch die Löckchen an ihrem Ohr fiel. Ihr aufmerksamer Blick und ihre Haltung hatten etwas Starres, als wäre sie ein durchscheinendes Gefäß und so randvoll mit Glück, dass sie sich nicht bewegen oder sprechen wollte, aus Furcht, überzufließen. Diese Furcht teilte sich ihm mit, und als sie so dasaßen, Hand in Hand, hatte er ein Gefühl, als beobachteten sie mit angehaltenem Atem einen Zaubervogel, der unmittelbar vor ihnen hockte und beim leisesten Geräusch auffliegen würde.«Meine Taube», dachte er,«wir beobachten meine Taube …»
    Schließlich wandte sie sich um und sagte flüsternd (als wollte sie die Taube nicht erschrecken):«Gleich kommt Mutter heim und findet den Brief.»
    Er drückte ihre Hand noch fester. In diesem Brief hatte sie Mrs Tracy geschrieben, sie werde nicht Bunty Hayes heiraten, sondern sei, wenn die Mutter den Brief öffne, bereits mit Vance verheiratet. Sie war völlig unfähig gewesen, diese Nachricht in Worte zu fassen, und Vance hatte ihr diktieren müssen, was sie schreiben sollte. Dann hatte er dem Brief einen Hundertdollarschein beigelegt, an den ein Zettel mit den Worten«Teilrückzahlung von B. Hayes’ Darlehen»geheftet war. Der Gedanke an das Tausend-Dollar-Darlehen, das Bunty Hayes der armen Mrs Tracy gewährt hatte, damit sie Laura Lou zur Schule schicken konnte, war für Vance eine Qual.«Die Stunde»hatte für«Nicht abgeholt»zweihundert Dollar bezahlt, und die Hälfte der Summe hatte er sofort in Laura Lous Brief gesteckt. Es war vielleicht nicht der richtige Moment, um über

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