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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Geld zu reden, aber Vance duldete keinen Aufschub. Er wollte die Schuld innerhalb von zwei oder drei Monaten tilgen, dann erst wäre der letzte Schatten von seinem Glück gewichen. Unterdessen beruhigte es ihn, dass er getan hatte, was er konnte.
    « Oh, guck doch mal, das Meer!», rief Laura Lou, und da lag es hinter Zwergeichen und Dünen, ein fernes Lichtblitzen unter einem stillen, wolkenlosen Himmel. Vance schwoll das Herz, aber er wandte den Blick zurück zu Laura Lou und sagte scheinbar gleichgültig:«Das ist noch gar nichts …»
    Der Schimmer verschwand, der Zug zockelte weiter zwischen Bäumen und Feldern dahin. Häuser tauchten auf, erst einzeln, dann in Gruppen, dann straßenweise, der Zug kam vor einem ländlichen Bahnsteig zum Stehen, Reisende stiegen aus und ein. Als eine Stunde später das unvermeidliche Klappern und Kreischen eine weitere Haltestelle ankündigte, sagte Vance:« Hier!»Er griff nach dem gemeinsamen Koffer, nahm Laura Lou beim Arm und schob sie aufgeregt zur Tür. Eine Minute später standen sie auf einem schäbigen Bahnsteig, während der Zug wieder davonschaukelte und sie zwischen Hütten und Dünen zurückließ.«Wir müssen noch ein Stück gehen», erklärte Vance und hob den Koffer, der ihm federleicht vorkam. Kaum hatten sie den Bahnhof verlassen, glaubte er jede Fahrspur, jedes Grasbüschel, jede hingekauerte Zwergeiche, die sich vorm Wind duckte, wiederzuerkennen. Und wenn er tausend Jahre alt würde, dachte er, niemals würde er einen Zoll dieser Straße vergessen.
    Laura Lou schien all ihre Befürchtungen beiseitegeschoben zu haben. Flott marschierte sie neben ihm her, fragte hie und da:« Wo gehen wir hin?», und gab sich mit seinem fröhlichen«Du wirst schon sehen!»lachend zufrieden. Es lag keine Spur von Winter in der Luft, doch als sie weitergingen, brachte eine nach Salz und Tang duftende Brise ihre Gesichter zum Prickeln, und Vance begann, von ihr angelockt, zu laufen.«Wir wollen keine Minute verlieren», rief er zurück, und Laura Lou stolperte auf ihren hohen Stöckelschuhen durch die sandigen Fahrspuren hinter ihm her. Sie kletterten immer weiter, sprachlos vor Eile, trunken von der Sonne, der Luft und dem eigenen Herzschlag, dann zog er sie den letzten Hügel hinauf, und da lag der Ozean. Vance hatte sich geschworen, eines Tages mit dem Mädchen, das er liebte, hierher zurückzukommen, aber er hatte nicht geahnt, dass dieses Mädchen Laura Lou sein würde. Er empfand so etwas wie Ehrfurcht bei dem Gedanken, dass bereits damals die Hand des Schicksals auf seiner Schulter gelegen hatte, und während er auf die wogenden silbernen Weiten starrte, fragte er sich, ob es schon die ganze Zeit gewusst hatte, wo er hinging, und ob es auch jetzt den Weg sah, der vor ihm lag.
    Als er vor drei Jahren im Sommer an diesen Strand gekommen war, einsam, halb verhungert, gelähmt vor Mutlosigkeit, fiebernd vor Überarbeitung, war das Meer ein graues Getöse unter einem sonnenlosen Himmel gewesen; heute, an diesem Dezembertag, blitzte es von sommerlichem Feuer.«Wie mein Leben», dachte er und streckte den Arm aus, um Laura Lou auf den Grat zu ziehen, auf dem er saß.«Hier», sagte er, seine Wange an ihrer,« hier wurde die Mutter unseres Vogels geboren.»
    Verständnislos blickte sie ihn unter ihren Kolibriwimpern hervor an.«Die Mutter unseres Vogels?»
    « Venus, Liebling. Weißt du nicht, dass die Taube der Vogel der Venus ist? Weißt du nicht, dass Venus unsere Göttin ist und dass sie aus den Wellen geboren wurde, über und über mit Schaum bedeckt? Und dass du ihr so ähnlich siehst, als wärst du gerade erst von einem dieser silbernen Streifen herangetragen worden, und als könnten sie dich jeden Augenblick wieder mitnehmen, wenn ich dich nicht ganz fest halte?»Er setzte seine Worte so ungestüm in die Tat um, dass sie in rosiger Verwirrung lachte.«Ach, Vance, was du dir bloß immer über andre Leute ausdenkst!»
    Auch er lachte sie an und hielt sie fest, aber in Gedanken war er schon bei den ewig atmenden silbernen Wogen.«Gott, ich wünschte, es würde jetzt sofort ein gewaltiger Sturm losbrechen; ich würde alles geben, um zu sehen, wie diese Millionen von Wellen sich aufbäumen und miteinander ringen.»
    Laura Lou fröstelte.«Also, dann würden wir bestimmt erfrieren. »
    « Warum – ist dir kalt?», fragte er, und ihm fiel ein, wie sie am späten Nachmittag im Garten von The Willows blass geworden war und gefröstelt hatte.
    Sie schüttelte den Kopf und kuschelte

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