Ein anderes Leben
Niemand sonst beklagt sich, aber er fühlt sich schuldig und grübelt darüber nach: Warum fliegen Kråkans Hände gerade bei seinen Artikeln nicht, aber bei allen anderen? Gegen Ende der Münchener Zeit erleidet Kråkan plötzlich einen Nervenzusammenbruch und wird krankgeschrieben. Alles sehr mystisch. Alle in der Redaktion versichern ihm, dass es nicht sein Fehler ist, dass Kråkans Probleme sehr speziell und ganz anderer Art sind, dass seine Artikel außerordentlich sind und Kråkans Zusammenbruch nicht mit ihnen oder damit zusammenhänge, dass seine Hände nicht fliegen, wenn er sie eingibt. Enquists Artikel sind vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, in Stockholm aber sehr geschätzt. Sie sagen, dass niemand dies mit Kråkans Händen, die nicht fliegen begreife.
Er selbst findet, dass er unprätentiös und ohne Acedia schreibt. Der Überdruss verschwunden. Keine Fragen angesichts dessen, was er machen soll . Der Steinsack der monströsen Projekte ist weg.
Es ist, wie es sein soll, bis zu dem Augenblick an einem frühen Morgen, als es wird, wie es nie hätte werden sollen.
Er erinnert sich an den Augenblick.
Es ist ein früher Morgen im Pressezentrum, der unvergleichliche Mark Spitz soll der Welt seine Goldmedaillen vorführen, aber er erscheint nicht und statt dessen teilt der Pressechef Klein in seiner extrem korrekten und distinkten Art mit, dass an diesem frühen Morgen etwas eingetroffen ist, das die Welt auf den Kopf stellt: Eine Gruppe vermutlich arabischer Terroristen ist in das israelische Mannschaftsquartier eingedrungen, hat einen Teilnehmer erschossen und die übrigen gefangengenommen. Die Gruppe bekommt im Folgenden einen Namen, Schwarzer September, und wird die Freilassung palästinensischer Gefangener verlangen.
Nach einer halbstündigen Wartezeit wird Mark Spitz hereingeführt, leichenblass und wie abwesend. Man stellt ihm Fragen, die er mit Mühe und Not beantwortet.
Dann beginnt die dreißigstündige Jagd.
Er hat immer davon geträumt, sich im Zentrum zu befinden, wenn die Geschichte einen Wendepunkt erlebt. Aber wenn man sich zufällig wirklich dort befindet, sieht man nicht gut. Auf jeden Fall nicht in die Zukunft; dass die Olympischen Spiele in München den Anfang einer ganz neuen Form von Kriegführung markierten, bei der sich nicht mehr Armeen gegenüberstehen sollten, nein, dass der Kampf künftig von unüberwindlichen, aber zugleich hilflosen Armeen gegen Terroristen in unzugänglichen Löchern geführt werden sollte. Das konnte damals ja niemand absehen.
Aber so kam es.
Das Zentrum ist ein überschätzter Platz. Siebzehn Jahre später befindet er sich im November 1989 in Prag in jener Nacht, als die Mauer fällt und hunderttausend Menschen den Wenzelsplatz bevölkern, aber da versteht er nichts, befindet sich so nah am Zentrum, dass die Volksmassen die Geschichte verdecken, und möchte am liebsten schlafen. Jetzt versteht er auch nicht, kann nur Trauer empfinden. Es war doch alles so heiter. Er schrieb so gut. Er bewegte sich so leicht, spürte keine Erschöpfung; er hatte sein ganzes Leben davon geträumt, diese Sportspiele mitzuerleben, zu sehen und zu schreiben. Jetzt nur Trauer.
Ihm wird klar, dass die Rolle der Politik im Sport, das Hauptthema im Sekundanten , jetzt schonungslos bestätigt werden würde.
Mehr denn jeder andere hätte er es wissen müssen.
Man baut eine fantastische Theaterbühne in München. Die ganze Welt bewundert dieses Theater, alle sind da. Man erleuchtet die Bühne, richtet die Fernsehkameras darauf, setzt die Weltpresse auf die Tribünen. Man kündigt ein Spiel an, das nur vom Sport handeln soll. Für zwei Wochen soll die Wirklichkeit sich fernhalten.
Man täuscht sich. Dieses Theater und diese Bühne sind allzu gut beleuchtet, die Aufmerksamkeit allzu intensiv und verlockend. Wenn die ganze Welt diese Bühne betrachtet, wollen viele sie betreten, eiskalte Akteure mit anderen Absichten als der zu spielen. Dann kommen sie. Sie springen auf die Bühne und führen ein Stück auf, das von der Welt da draußen handelt. Männer in schwarzen Masken treten ins Rampenlicht und spielen ein Spiel anderer Art, das man den Palästinakonflikt nennen kann.
Im nachhinein war es ja so leicht zu verstehen. Die Politik sollte sich dieses Sportspiel einverleiben und es in einem Happs schlucken. Und das Spiel würde vorbei sein. Was hatte Frau Meckel gesagt? Hatte sie nicht zum Erlöser Jesus Christus gebetet, dass er vom Gift der Politik verschont bliebe?
Er
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