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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Thema, für das er nach dem Roman Die Ausgelieferten als Experte galt und deshalb häufig eingeladen wurde.
    Kam im August zurück. Herr Clausen hatte einen Zettel in den Kasten geworfen, einen Brief. Er war in wohlwollendem Ton gehalten und verriet Umsicht: Er wurde darin gebeten, wenn er es wünschte, sie in ihrem Sommerhaus in Tisvilde zu besuchen. Man habe erfahren, schrieb Clausen, dass Freunde des Schweden, Thomas und Lene Bredsdorff, ein Sommerhaus in Udsholt besäßen, und wenn sein Weg ihn dorthin führe, könne er vielleicht ein Stück weiter an der dänischen Küste entlangfahren, die zu dieser Jahreszeit einen solch einzigartigen Schönheitswert besitze, und somit teilhaben an der wunderbaren dänischen Natur, er als Schwede. Und so weiter. Herr Clausen schrieb in dem gleichen sprachlichen Ton, den er während seines ganzen Arbeitslebens benutzt hatte. Er verstellte sich nicht. Das war schön. Er war liebenswert, beinah nettig.
    Man musste sich zusammennehmen.

Herr Clausen hatte das Sommerhaus in Tisvilde von Mitte August an gemietet, in der Nachsaison.
    Das war billiger. Herr Clausen hatte zwar gewisse Ersparnisse, aber man musste sich trotzdem nach der Decke strecken. Die Eheleute waren sich einig. Sie nahmen ein Taxi hinaus; sie hatten Matratzen, Essen, Bier und Bettzeug aus der Sortedam Dossering mitgenommen, und Schwester Gerda saß auf der Rückbank und lächelte und heulte in einem fort. Der Taxifahrer hatte auf die Bitte des Paares, kein Gespräch führen zu müssen, nichts erwidert.
    Sie hatten schweigend bezahlt, ausgeladen und waren allein.
    Während Frau Clausen die Hütte erst einmal in Augenschein nahm, hatten sie Gerda auf die Vortreppe gesetzt; sie hatte, wie sie es zu tun pflegte, einem Vogel gleich mit den Augen geblinzelt, aber verblüfft geschwiegen. Wie still es hier ist , hatte Frau Clausen gesagt, es wird ihr gefallen . Die Wellen schlugen an den Strand und ›plätscherten friedlich‹ . Schwester Gerda wiegte den Oberkörper vor und zurück, schwieg aber. Herr Clausen hatte gemeint, sie ist es nur nicht gewöhnt, sie fängt sicher wieder an zu rufen, wenn sie sich zu Hause fühlt.
    Sollte er sie besuchen? Er ist sich jetzt vollständig sicher, ja überzeugt davon, dass Liebe für Herrn und Frau Clausen bedeutete, nützlich zu sein. Jemand zu sein, der gebraucht wurde. Schwester Gerdas Rufe bekräftigten, dass er gebraucht wurde. Später umfasste dies auch die Liebe seiner Frau zu seiner Schwester. Und da hatte Herr Clausen gedacht: Wir lieben uns. Alle drei. Wenn es doch immer so sein könnte.
    Sie würde sich im Krankenhaus nie wohlfühlen , hatte Herrn Clausens Frau am ersten Abend im Sommerhaus geflüstert, gerade bevor sie einschliefen.
    Er spürte ja, dass er sank.
    Aber es war nicht wie Onkel Arons Tod im Eisloch auf der Burebucht. Nicht eiskalt und schnell und abwärts ins tiefste Dunkel des Meeres.
    Er konnte sich ja an die Familie Clausen halten. Über die herrschte er ja jetzt. In totaler Kontrolle. Das einzige Problem war, dass sie sich nicht aufzeichnen ließen.
    Im September leerte sich die nordöstliche Küste Seelands von Touristen.
    Herr Clausen und seine beiden Frauen saßen oft auf den entvölkerten Dünen und sahen zu, wie der Nebel sich langsam übers Meer heranwälzte, sich öffnete, sich teilte, aufstieg und den Blick weit hinaus freigab, bis er an einem schwarzen Strich am Horizont hängenblieb, einem Frachtschiff, das auf dem Weg nach Hause in nördlicher Richtung kroch.
    Schwester Gerda schrie und muhte wieder.
    Sie hatte sich an das Sommerhaus gewöhnt. Ihre Wangen waren nicht länger eingefallen und schrumpelig, sie sah frisch und gesund aus, hatte fünf Kilo zugenommen und konnte stundenlang im Zimmer umherspazieren, wobei sie klitzekleine Schritte machte, als gehe es ihr darum, die Ewigkeit auszumessen. Manchmal ließen sie sie auf dem Rasen vor dem Haus spazierengehen, mit einer Schnur um die Taille, deren Ende an der Haustür befestigt war; es war nicht so gut gegangen, meinte Herr Clausen, sie verhedderte sich oft, wie ein Hund an einer allzu langen Leine. Es wäre besser, wenn sie im Kreis gehen könnte. Als Übergangslösung ließen sie sie am Strand entlanggehen, da konnte sie mehr für sich selbst murmeln, ohne Rufe, als habe der Duft des Tangs sie verwirrt, und nur undeutlich hörte man sie jemanden in ihrem rätselhaften Leben beschuldigen, ein altes Luder oder ein Scherzpimmel zu sein.
    Keine Touristen.
    Schwester Gerda hatte ein Seil um die

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