Ein anderes Leben
Hüfte gebunden, Herr Clausen und seine Frau hielten jeweils ein Ende und hinderten sie daran, sich ins Wasser zu versenken. Vögel schrien, sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
Herr Clausen hatte wieder begonnen, seine Frau an der Hand zu halten.
In den Nächten saßen sie oft alle drei dicht nebeneinander im Bett, in Wolldecken gewickelt, Schwester Gerda schlief fast immer als erste ein. Herr Clausen und seine Frau gaben sich dann Mühe, sie nicht zu wecken; sie wussten, dass sie sonst ganz sicher die Arme ausbreiten und rufen würde, Komm her zu mir du Satans Saustengel , wie sie es zu tun pflegte. Es war, als sei dies alles jetzt das Normale geworden, dass sie mit Liebe und Wärme diesen rätselhaften Kessel betrachten konnten, in dem es von den Erfahrungen eines langen Lebens brodelte und in regelmäßigen Abständen Blasen an die Oberfläche stiegen, die Geheimnisse und Wörter und Schmerzpunkte enthielten; ja, genau dieses Wort Schmerzpunkte war etwas, woran sie sich hielten, es konnte etwas erklären.
Schwester Gerda hatte ihr Leben gelebt. Keiner konnte jetzt die Schmerzpunkte zensieren.
Manchmal nahm Frau Clausen Schwester Gerda auf den Schoß und wiegte sie. Der Mond hing tief über dem Wasser, an den Morgen war das Gras weiß, und es knirschte unter den Füßen, wenn Schwester Gerda mit ihren kleinen kurzen Schritten die Ewigkeit ausmaß. Sie waren froh darüber, dass sie ein wenig dicker geworden war. Sehr still unten am Strand. Ohne Schwester Gerdas Rufe wäre es fast eintönig geworden.
Klare Nächte. Der Mond.
Herr Clausen schlug einen Pfahl in der Mitte des Rasens vor dem Haus ein, band ein Seil um Gerdas Taille und befestigte es mit einer Schlaufe an dem Pfahl. Das Seil war fünf Meter lang. Jetzt konnte sie herumgehen, und sie brauchten sich keine Sorgen zu machen.
Schwester Gerda wurde immer kräftiger. Jetzt war sie beinahe dick. Ihre Wangen leuchteten. Es war lästig, wenn sie sich vollgemacht hatte, aber Herr Clausen hatte gelernt, ihre Wäsche zu wechseln, und sie halfen sich gegenseitig. Oktober.
Sie waren alle drei vollkommen glücklich.
Am Morgen des 21. November – jemand hatte offenbar etwas gesehen und sich gewundert – erschienen zwei Beamte des Sozialamts in Gilleleje. Schwester Gerda befand sich auf ihrem Morgenspaziergang um den Pfahl, ein Kreis war jetzt ausgetreten, ihre roten Wangen leuchteten, sie hatte einen Handschuh verloren und sich unglücklicherweise gerade vollgemacht, weswegen die beiden Beamten fälschlicherweise Verwahrlosung vermuteten. Im übrigen ging es ihr ausgezeichnet, und sie sang heulend zum grauen Himmel auf. Sie banden sie los, sprachen kurz mit Herrn Clausen und zogen sie anschließend trotz ihrer Protestrufe in das Auto. Einer der Beamten wurde von ›der Verwahrlosten‹ im Gesicht gekratzt. Herr Clausen konnte nichts tun. Seine Frau weinte ununterbrochen.
Schwester Gerda wurde ins Krankenhaus gebracht. Herr Clausen war außerstande, zu erklären, was sie sich gedacht hatten. Sie waren durch das Eingreifen an der Liebe gehindert worden, waren aus Liebe zu dieser Pflege getrieben worden. Er meinte vielleicht, nicht weit davon entfernt zu sein, zu verstehen, was Liebe war, aber nun daran gehindert worden war. Gehindert worden daran, im letzten Augenblick zu sehen, was ihr Leben gewesen war, dem Augenblick, da er hätte zusammenfügen und verstehen können, und die Punkte hätten eine Figur gebildet, und er hätte da in die Hände klatschen und rufen können: Ein anderes Leben! Es fehlten nur ganz wenige Punkte.
Er fuhr ja nicht zu ihnen hinauf, in das Sommerhaus in Tisvilde.
Herr Clausen begegnete ihm im Januar im Treppenhaus und sagte ihm, dass seine Schwester gestorben war. Der Schwede in der Mitte seines Lebens fand die Rekonstruktion von Schwester Gerdas Leben unmöglich. Er plazierte sie in die Reihe demontierter Projekte. Das Eis hatte sich über den Sortedam gelegt. Von jenseits der jetzt blendend weißen Eisfläche blickte Frau Luise Heiberg mit einem Abstand von einhundertzwanzig Jahren zu ihm herüber. Ihre Freunde, sämtlich Professoren und nicht im Bordell geboren, die ihre umfassenden Memoiren Ein Leben probegelesen hatten, hatten alles aus ihren Aufzeichnungen getilgt, was der Schmutz des Lebens war.
Das Getilgte stellte eine unerhörte Wahrheit dar.
Er schrieb ein Stück, das Aus dem Leben der Regenwürmer hieß. Schwester Gerda jetzt fort, ihre Rufe, ihr Leben, mitsamt dem Schmutz des Lebens. Als kleines Mädchen
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